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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche
Autoren: Aris Fioretos
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das in die Obhut einer Wahrsagerin gegeben wurde – auch wenn es verrückt war, dass selbiges Kind, seine eigene Mutter, einen Brief unter dem Namen dieser Wahrsagerin bekommen haben sollte. Er verstand es sogar, wenn die Gehilfinnen nicht unerwähnt lassen wollten, dass besagte Frau, der es nie wirklich gelungen war zu lernen, wie man eine Mutter war, einen Sohn hatte, der als Eishockeyspieler beim Tollarp IK Karriere gemacht hatte. Als er jedoch Kezdoglous seltsames Supplement las, begriff er nicht, warum der Freund es nötig gefunden hatte, seine, Jannis’ Reise in ein Land am Rande Europas als mögliches Beispiel für »historische Ironie« anzuführen. Als Jannis den Bericht las, verspürte er kein Glück mehr. Er hatte das Gefühl, sich tief in sich selbst zu befinden, da, wo man als Mensch nicht fertig ist, und erkennen zu müssen, dass er nicht allein war. Eine unsichtbare Hand lockerte gerade namenlose Organe. Er spürte, dass sich die Oberschenkel anspannten, aber von fremden Bewegungen, er spürte, wie die Ahnen aus seinem Waschbrett gezogen wurden, das sich in einen Teppich aus Gelee verwandelte. Seine Fäuste öffneten und schlossen sich unfreiwillig, die Nackenmuskeln gaben nach, seine Beine, geformt aus Gips, wurden zerbröselt. Er atmete schnell und schwer, als bekäme er keine Luft. Er atmete leicht oder gar nicht, als hätte er mehr als genug bekommen. Jemand zog ihm soeben Haut und Haare ab. Jemand kleidete ihn in Worte, die ihn nackt machten. Am Ende fühlte er sich wie eine gehäutete Marionette.
    Nach einem Zeitraum, den wir nicht näher kontrolliert haben, ihm kam er vor wie eine Lebensspanne, blickte Britt-Marie Sävlund auf, um zu schauen, wie lange ihr Arbeitstag noch dauern würde. Statt der Wanduhr entdeckte sie ein namenloses Wesen, das aufstand, zurückfiel und wieder aufstand, diesmal mit der Hand auf dem Stuhlkissen. Der Mann gab sich selbst ein paar Ohrfeigen, er hustete. Dann packte er sich in den Schritt, hob die gesamte Herrlichkeit an und stolperte zu den Druckerpressen hinaus, die nach jeder vollendeten Drehung einen angenehm schleppenden Laut machten. Als die Tür ins Schloss fiel, kehrte alles zur guten alten Stille zurück. Bald würde die rote Glocke klingeln und verkünden, dass es halb vier war.
    »Wasserschaden! Makulatur!«, rief das Wesen Bernt Engberg zu, der wegen des Lärms nichts hören konnte. Die Gestalt presst ihren Mund an sein Ohr: »Nichts zum Aufbewahren, ich meine.« Der Vorarbeiter nickte zufrieden. Jetzt würden sie die Weihnachtskataloge rechtzeitig fertig bekommen. Als er den Druckern das Signal gab, die letzte Platte einzusetzen, sah er das Wesen mit ungelenken Bewegungen in Richtung Hof verschwinden. Dort muss der Mann den Holzkasten ausgeschüttelt haben wie andere den Kopf schütteln. Der Inhalt dürfte wie ein kollabiertes Kartenhaus zur Erde gefallen sein. Das Wesen ging in die Hocke, schob die Karten zu einem Haufen zusammen und dachte, dass sie einem Scheiterhaufen glichen. Dann muss es das Streichholz aus dem Mund genommen und angerissen haben.
    Eine Pause.
    Noch eine.
    Dann schrillte die rote Klara.
    Als Agneta zwei Tage später nach einem Behältnis suchte, in das sie einzelne Ohrringe, Sicherheitsnadeln und zusammengerollte Geschenkbänder legen konnte, freute sie sich über den leeren Kasten, den ihr Mann auf die Hutablage im Flur gestellt hatte. Agneta packte ihn ein und überlegte, dass ihr neuer Freund sicher Verwendung für ihn haben würde. Dann fuhr der Umzugswagen los.
    DAS GEGENTEIL VON MÜCKEN . Wir blättern zwei Wochen weiter. Jannis steht bei der Familie Florinos in der Küche. Er ist soeben aus Bromölla zurückgekehrt. Seine Bewegungen wirken befreit, als befände er sich jenseits eines Entschlusses. »Kontrolle«, sagt er nachdenklich. Mit einer Hand stützt er sich auf die Spüle, in der anderen hält er … Nein, wir werden später darauf zurückkommen, was er in der anderen Hand hält. Am Tisch sitzt ein ehemaliger Lehrer und grübelt über seine Hausaufgabe für den nächsten Tag nach. Er sieht Jannis an. Er hört tatsächlich zu. »Kontrolle?«, wiederholt der Grieche, diesmal mit einem deutlichen Fragezeichen. Er hat die gleichen geäderten Unterarme und die muskulöse Schulterpartie wie damals, als er vor fast einem ganzen Karteikasten in Kristianstad in der Chirurgie saß. Auch die Stimme hat ihren dumpfen Klang wiederbekommen. Während der ersten Wochen alleine mit Jannoula war sie rostig und rissig gewesen, jetzt
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