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Der letzte Coyote

Der letzte Coyote

Titel: Der letzte Coyote
Autoren: Michael Connelly
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›Chronologie der laufenden Ermittlungen‹ waren die gleichen wie heute – bis auf einige Formulierungsänderungen, die durch Gerichtsentscheide und ›politische Korrektheit‹ notwendig geworden waren. Das Kästchen Neger war in Schwarze und später Afro-Amerikaner umgeändert worden. Im vorläufigen Ermittlungsgutachten waren Gewalttätige Auseinandersetzungen im Haushalt und Vorurteile/Rassismus noch nicht als mögliche Motive aufgeführt, und Vernehmungsprotokolle enthielten nicht das Kästchen, daß der Verhörte über seine Rechte belehrt worden war.
    Abgesehen von diesen Unterschieden waren es die gleichen Formulare, und Bosch kam zu dem Schluß, daß sich nicht viel bei der Untersuchung von Morden geändert hatte. Natürlich hatte es große wissenschaftliche Fortschritte in den letzten fünfunddreißig Jahren gegeben, aber er war der Ansicht, daß sich manche Dinge nie ändern würden. Die Lauferei, die Kunst des Zuhörens und Verhörens sowie die Erfahrung, wann man seinen Instinkten und Gefühlen trauen sollte. Das könnte und würde sich nicht ändern.
    Der Fall war zwei Detectives vom Hollywood Mord-Tisch übergeben worden. Claude Eno und Jake McKittrick. Ihre Berichte waren in chronologischer Folge abgeheftet. In den ersten ›vorläufigen Berichten‹ wurde das Opfer bereits mit Namen erwähnt – Indiz dafür, daß sie sofort identifiziert worden war. Die ersten Seiten berichteten, daß das Opfer in einer Hintergasse, parallel zum Hollywood Boulevard, zwischen Vista und Gower Street gefunden worden war. Rock und Unterwäsche waren vom Täter zerrissen worden. Man nahm an, daß sie vergewaltigt und erwürgt worden war. Die Leiche war in einen offenen Müllcontainer geworfen worden, der neben der Hintertür eines Hollywood-Souvenirladens namens Startime Gifts & Gags stand. Ein Polizist, der am Boulevard Streife ging und zu Schichtbeginn gewöhnlich die Hintergäßchen überprüfte, hatte sie morgens um 7.35 Uhr entdeckt. Man fand keine Handtasche bei der Leiche, aber sie wurde schnell identifiziert, da sie dem Streifenpolizisten bekannt war. Der Grund dafür war in einem späteren Bericht zu lesen.
     
    Das Opfer wurde mehrmals wegen unbefugten Herumlungerns in Hollywood verhaftet (siehe VH 55-002, 55-913, 59-056, 60-815, und 60-1121). Detectives Gilchrist und Stano vom Sittendezernat beschrieben das Opfer als Prostituierte, die von Zeit zu Zeit in Hollywood auf den Strich ging und mehrmals verwarnt worden war. Das Opfer wohnte in einem der Einzimmerapartments des El Rios, zwei Blocks nördlich vom Tatort. Es wird vermutet, daß sie z. Z. für einen Callgirl-Ring arbeitete. MP 1906 war in der Lage, das Opfer zu identifizieren, da er die Person in den letzten Jahren des öfteren in der Gegend gesehen hatte.
     
    Bosch schaute auf die Dienstnummer des Meldung erstattenden Polizisten. Der Streifenpolizist 1906 war inzwischen einer der mächtigsten Personen im Polizeiapparat, Assistant Chief Irvin S. Irving. Irving hatte Bosch einmal anvertraut, daß er Marjorie Lowe gekannt hatte und daß er derjenige gewesen war, der ihre Leiche gefunden hatte. Bosch steckte sich eine Zigarette an und las weiter. Die Berichte waren schlampig und nur der Form halber geschrieben worden. Sie steckten voller Flüchtigkeitsfehler. Beim Lesen merkte Bosch, daß Eno und McKittrick nicht viel Zeit in den Fall investiert hatten. Prostituiertenmord fiel unter Berufsrisiko. Es gab Wichtigeres. Auf dem ›Todesfallbericht‹ entdeckte er einen Kasten, in dem der nächste Familienangehörige aufgeführt wurde.
    Hieronymus Bosch (Harry), Sohn, Alter 11, McClaren Kinderheim. Benachrichtigung erfolgte am 28.10. , 15.00 Uhr. Erziehungsberechtigter: Sozialamt seit Juli ’60 (EuM – siehe Verhaftungsprotokolle des Opfers 60-815 und 60-1121). Vater unbekannt. Sohn bleibt in der Obhut des Kinderheims, bis ein Platz bei Pflegeeltern gefunden wird.
     
    Bosch konnte leicht alle Abkürzungen entschlüsseln und übersetzen. EuM bedeutete ›Erziehungsunfähige Mutter‹. Selbst nach so vielen Jahren schmerzte ihn die grausige Ironie. Man hatte den Jungen einer angeblich untauglichen Mutter weggenommen und einer Institution ausgeliefert, die gleichermaßen unfähig war. Am deutlichsten erinnerte er sich an den Lärm im Heim. Es war immer laut, wie in einem Gefängnis.
    Bosch erinnerte sich, daß es McKittrick gewesen war, der es ihm gesagt hatte, während der Schwimmstunde. Das Hallenbad schäumte: Hundert Jungen schwammen, planschten und
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