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Der letzte Aufguss

Der letzte Aufguss

Titel: Der letzte Aufguss
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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Großbritannien, wo keine Meldepflicht
bestand, konnte man einfacher untertauchen als anderswo.
    Vorbei.
    Es war vorbei.
    In diesem Moment trat ein ebenso prächtiger wie bösartiger Schwan
auf die Straße. Er richtete sich auf, breitete seine mächtigen Flügel aus,
schwang sie wild auf und nieder und fauchte wie ein Drache.
    Er rannte dem Flüchtenden entgegen.
    Wurde immer schneller.
    Und hob schließlich ab, ein trudelnder Jumbojet auf direktem
Crash-Kurs.
    Es war Charles, das Mistvieh.
    Benno vergaß den Gegenstand, auf dem er gerade herumbiss, denn ein
Schwan im Angriffsflug war weitaus faszinierender. Für den Flüchtenden stellte
sich das Bild anders dar. Von vorne kam ihm der böseste Schwan des Königreichs
entgegen, ein riesiges Geschoss aus Federn, von hinten raste ein Gebiss auf
vier Beinen heran.
    Und plötzlich nahm jemand aus der Gruppe die Verfolgung auf.
Ausgerechnet Töler hatte die Geistesgegenwart, den Mut und die Kraft dazu. Alle
anderen erwachten aus der Schockstarre und rannten ebenfalls los. Wie eine
Horde Barbaren. Plötzlich war die Energie wieder da. Die Anspannung des Abends
verwandelte sich in Gebrüll und Getrampel.
    Der Fluchtreflex hatte den Täter in Richtung Fluss geführt – doch er
wurde nun von einem anderen Reflex überwunden. Er hieß: Bei Gefahr ducken! Ganz
tief ducken!
    Vor allem vor dem Schwan.
    Der nur Sekunden später auf seinem Rücken landete.
Überraschenderweise nicht an einen Angriff denkend. Er begann auf eine etwas
ruppige Art und Weise mit dem Liebesspiel.
    Pit und Rena machten sich daran, ihn vom Rücken des Täters zu ziehen – doch Bietigheim hielt sie zurück.
    Â»Haben Sie den Earl und Michael Broadbent getötet? Antworten Sie
laut und deutlich, denn der Schwan ist ohrenbetäubend bei seinem Liebesspiel.«
    Der Mann hielt sich die Arme über den Kopf. Charles biss hinein.
Immer wieder.
    Â»Ja!«
    Â»Sagen Sie es im ganzen Satz!«
    Â»Ja, ich habe den Earl und Michael Broadbent getötet.«
    Bietigheim nickte in Richtung Pit. »Entfernen Sie das Geflügel.«
    Charles gefiel das gar nicht. Er war gerade so gut in Fahrt gewesen.
Kaum hatte Pit ihn in den Fluss geworfen, watschelte er zurück ans Ufer. Pit
warf ihn wieder in den Cam. Charles kam wieder heraus. Die beiden hatten eine
schöne Zeit miteinander.
    Derweil half Bietigheim dem mit blutenden Schrammen verzierten
Mörder auf die Beine. Er reichte ihm sogar sein besticktes Stofftaschentuch zur
Erstversorgung. Immerhin hatte er diesen Mann einst ins Herz geschlossen, auch
wenn er ihn nun, da er von dessen Taten wusste, wieder seines Herzens würde
verweisen müssen.
    Â»Schmerzt es sehr, Colin?«
    Â»Es geht. Danke der Nachfrage.« Diese Höflichkeit – beeindruckend.
Selbst wenn man gerade eines Doppelmordes überführt worden war. »Sie möchten
jetzt sicher von mir hören, warum ich es getan habe. Sie alle, nehme ich an.«
Er wirkte ganz gefasst. Vielleicht war es auch nur die Erschöpfung nach der
Flucht und dem Schwanenangriff. »Könnten wir für die Erklärungen ins Pub gehen?
Ich würde gerne noch ein letztes Mal in Freiheit ein Ale trinken.«
    Man war sich schnell einig, dass solch einem Wunsch nachzukommen
war. Der Professor vermutete, weil eine direkte Übergabe Colins an die Polizei
die Anwesenden um etliche Details gebracht hätte. Offiziell hätten sie
vermutlich eher ihr großes Herz ins Feld geführt.
    Das Pickerel Inn hatte noch geöffnet. Obwohl es für den ganzen Abend
angemietet worden war, saßen nun andere Gäste darin. Der Professor ließ sie
entfernen, rückte für Colin einen Stuhl in die Mitte und für sich einen
gegenüber von ihm. Dann bestellte er ein Ale und einen Tee. Die anderen kamen
mit ihren Stühlen näher – aber nicht so nah, dass es neugierig ausgesehen
hätte. Den Abstand so ausgewogen einzuhalten war höchste gesellschaftliche
Kunst.
    Â»Tim, also der Earl, und ich haben eine lange, gemeinsame
Geschichte. Wir haben zusammen studiert, uns eine Studentenbude geteilt, waren
beste Freunde, unzertrennlich, die Welt wollten wir gemeinsam erobern. Dann kam
die Forschungsreise nach Wuyishan. Wir schrieben die Arbeit darüber zusammen –
doch er veröffentlichte sie schließlich ohne mein Wissen und als alleiniger
Autor. Ich erhob Einspruch, aber seine Kontakte waren natürlich viel besser
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