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Der letzte Aufguss

Der letzte Aufguss

Titel: Der letzte Aufguss
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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Freundin
Vivienne Westwood. Keine Party, die er ausgelassen hätte, kein
gesellschaftliches Event, auf dem er sich nicht sehen ließ. Publiziert hatte er
nicht viel, und selbst bei seinen wenigen Schriften fragte man sich, wann er je
die Zeit dafür gefunden hatte. Doch er hatte die Kulinaristik in die Medien
gebracht, denn über einen Paradiesvogel wie ihn wollten alle berichten. Auch
Forschungsgelder und andere Mittel hatte er akquiriert und Cambridge damit zum
wichtigsten Zentrum der Teeforschung außerhalb Asiens werden lassen.
    Nun, nach dem Tod von Cleesewood, spekulierte die Zeitung darüber,
wer die Nachfolge antreten würde. Der Redakteur war der Meinung, es könne nur
ein ausgesprochen mutiger Mann sein.
    Oder schlicht ein Vollidiot.
    Bietigheim hatte die Stelle in einem plötzlichen Anflug von
Abenteuerlust angenommen. Nun kam ihm der Entschluss ein wenig wahnsinnig vor.
Seine beiden Vorgänger waren innerhalb eines halben Jahres auf dieselbe Art und
Weise umgebracht worden. Der Serienkiller hatte ganz offenbar etwas gegen die
Inhaber dieses Lehrstuhls. Nur warum? Das Fach Kulinaristik schadete niemandem,
es war größtenteils unpolitisch, die Forscher äußerten sich selten zu Fragen
der Religion (und wenn, dann höchstens zum Thema Essensgebote), und von
Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Drogenhandel, Prostitution
oder Erpressung hatte auch nichts in der Stellenbeschreibung gestanden. Warum
also diese einfallsreichen, aber nichtsdestotrotz abscheulichen Morde?
    Am Ende des Artikels wurde darauf hingewiesen, dass im Innenteil
Ausführlicheres über die Taten zu finden war. Bietigheim umkreiste den
Wohnzimmertisch mit der Zeitung eine Weile, dann atmete er tief durch, griff
sie sich und ließ sich in den Ohrensessel fallen. Wäre wenigstens Benno von
Saber bei ihm, sein treuer Foxterrier. Dann hätte er sich wohler gefühlt. Ein
Haus ohne Hund war wie ein Huhn ohne Federn. Doch die Quarantänevorschriften
Großbritanniens waren streng und eindeutig. Selbst so knuffige Exemplare wie
Benno mussten draußen bleiben. Bietigheim erinnerte sich noch gut, wie er ihn
damals beim Züchter in Eimsbüttel abgeholt hatte. Den Fahrradkorb hatte er für
die Rückfahrt mit einer Zeitung ausgelegt – auf der sich der kleine Racker dann
erleichtert hatte. Und zwar genau auf dem Artikel über die rivalisierende
Universität Bremen.
    Da hatte er gewusst, dass sie dicke Freunde werden würden.
    Der Professor überflog den Artikel in den »Cambridge Evening News«.
Der Mörder war noch immer nicht gefasst, und zwischen den Zeilen war zu lesen,
dass die Polizei nicht einmal eine brauchbare Spur hatte. Bietigheim hielt die
Zeitung so, dass die wenigen Lichtstrahlen dieses trüben Tages auf das große
Farbfoto im Innenteil fielen. Hatte er es sich doch gleich gedacht! Das mochte
ja weißer Darjeeling sein, aber er war miserabel aufgebrüht. Stümperhaft
geradezu. Aber so etwas fiel Polizisten natürlich nicht auf, was wussten die
schon von den Feinheiten der Teekultur? So viel wie eine Kuh von Astrophysik.
    Neben dem Artikel befand sich eine Anzeige von Auntieʼs Tea House,
wo eine neue Bedienung gesucht wurde. Ihr Werbe-Slogan (»Tee – weckt die
Lebensgeister!«) mutete neben dem Artikel über die toten Professoren ein wenig
geschmacklos an. Und das war bei Tee immer schlecht.
    Bietigheim legte die Zeitung auf den Beistelltisch und drehte sie
um, damit er die Titelseite nicht mehr sehen musste. Dann öffnete er den
Briefumschlag.
    Doch das machte alles nur noch schlimmer.
    Der Umschlag enthielt Fotos der Ermordeten. Detaillierte
Nahaufnahmen der aufgequollenen Gesichter. Aus allen Blickwinkeln.
    Wer schickte ihm so etwas zur Begrüßung? Die Fotos waren tagsüber
geschossen worden, also konnten es keine Erinnerungsaufnahmen des Mörders sein,
denn dieser hatte nachts zugeschlagen. Doch wer war dann so zynisch, ihm mit
diesen Fotos so deutlich vor Augen zu führen, welches Damoklesschwert über ihm
schwebte? Ein Schwert, das im Übrigen jederzeit fallen konnte, noch bevor er
auch nur eine einzige Tasse Tee getrunken hatte?
    Apropos Tee, dachte Bietigheim, eine Tasse mit heißem Earl Grey wäre
jetzt wunderbar für Leib und Seele – herrlich erfrischender chinesischer
Schwarztee mit Schalen der Bergamotte, Citrus bergamia. So ein Neuanfang ging
mit Tee gleich viel besser, und ein wenig
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