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Der letzte Aufguss

Der letzte Aufguss

Titel: Der letzte Aufguss
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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Teegebäck von Ackenthorpe durfte auch
nicht fehlen.
    Auf dem Weg zur Küche bemerkte Bietigheim vor dem Fenster zur
Pretoria Road einen Blitz. Er zählte innerlich die Sekunden bis zum Donner, um
abzuschätzen, wie weit das Gewitter entfernt war. Doch es kam kein Donner.
    Dafür noch ein Blitz.
    Und ein weiterer.
    Bietigheim trat zum Fenster und bereute es sofort. Draußen stand ein
Fotograf, der nun ein wunderbares Bild von ihm schoss, wie er wütend
hinausblickte. Dann rannte der junge Mann fort, denn vermutlich ahnte er, dass
Bietigheim ansonsten die Kamera und seine Nase nicht im Originalzustand
gelassen hätte.
    Was für ein Tag.
    Schlimmer konnte es kaum werden.
    Adalbert Bietigheim war ein wenig enttäuscht, dass er seinen extra
angeschafften Schirm mit aufgedrucktem Hamburger Landeswappen nicht brauchte,
als er aus der Tür trat. Aber es schien tatsächlich die Sonne. Dabei hätte ihn
das nicht wundern müssen, denn wenn er sich an seine Zeit als Juniorprofessor
in Cambridge erinnerte, schien immer die Sonne. Es stimmte zwar, dass es oft
regnete, aber es hörte eben auch oft wieder auf. Das Wetter wechselte schneller
als Ebbe und Flut.
    Gerne wäre der Professor mit seinem alten Hollandrad gefahren, doch
dessen Transport hatte sich als sehr kompliziert herausgestellt. Nun war er
also nicht nur hunde-, sondern auch fahrradlos. Doch er hatte immer noch seine
Füße! Und die trugen ihn nun über die Fußbrücke am Ende der Pretoria Road und
am Cam entlang bis zum Zentrum des Städtchens. Allerdings nannte Bietigheim den
träge dahinfließenden Fluss Granta. Denn erst nachdem die angelsächsische
Siedlung Grantebrycge zu Cambridge geworden war, hatte auch der Fluss seinen
ursprünglichen Namen verloren. Doch alle, die ihn gut kannten, durften ihn
weiterhin bei seinem Geburtsnamen nennen.
    Der Weg zu seinem neuen Arbeitsplatz war nicht weit, denn
Professoren durften einer alten Vorschrift zufolge nicht weiter als zwanzig
Meilen von der Universität oder genauer gesagt von der Kirche Great St Maryʼs
im Herzen Cambridges wohnen, Studenten gar nur drei Meilen. Bietigheim
passierte das beste Restaurant der Stadt, das mit zwei Sternen dekorierte
Midsummer House. Einige köstliche Düfte stahlen sich bis in seine Nase –
geröstetes Rosmarin-Salzlamm, Seezunge an Lakritz-Limettensauce, Tarte Tatin
mit Champagnersorbet –, doch jetzt hatte er keine Zeit für ein ausschweifendes
Mahl – er musste zum Institut für Kulinaristik.
    Linkerhand des Flusses erstreckten sich das weitläufige Grün des
Parks Jesus Green und der nach ihm benannte Jesus Green Swimming Pool, rechts
die Bootshäuser der einunddreißig Colleges. Stetig zogen Ruderer ihre Bahnen
auf dem Fluss, vorbei an den fest vertäuten Narrowboats, die, schmal wie
Zigarren, Heimstatt für Alternativwohnende geworden waren. Damit die Boote auf
alle Binnenwasserstraßen passten, waren sie zwar bis zu einundzwanzig Meter
lang, aber nie mehr als gut zwei Meter breit.
    Eines der Narrowboats, angemalt wie die Flagge des Vereinigten
Königreichs, war sogar zu vermieten. Inklusive Grill, wie auf dem handgemalten
Pappplakat stand. Für Bietigheim wäre das allerdings nichts. Fester Boden
musste schon sein, fand er. Sowie ein Kamin. Und idealerweise eine Küche, die
größer als das Wohnzimmer war.
    Der Professor passte so perfekt in die Innenstadt Cambridges wie in
einen maßgefertigten Handschuh. Überall befanden sich Gebäude der Colleges und
der Universität, die man mit keiner anderen Englands vergleichen konnte. Sie
war eine kleine Welt für sich, als Cambridge Bubble bekannt. Eine achthundert
Jahre alte Seifenblase.
    Das Institut für Kulinaristik lag im dritten Stock eines roten
Backsteingebäudes in der Mill Lane, nur wenige Meter vom Flussufer entfernt.
Einen Aufzug gab es nicht, doch das war Adalbert Bietigheim nur recht. So kamen
auch die gehfaulen Studenten zu etwas Bewegung. Studien hatten längst bewiesen,
dass der Sinnspruch »Mens sana in corpore sano« tatsächlich galt – ein gesunder
Geist in einem gesunden Körper war gerade im Alter sehr wichtig. Doch man
konnte nicht früh genug damit beginnen.
    Die Tür zum Institut war mit einem Milchglasfenster versehen. Zu
seiner Zufriedenheit war auf dem Schild bereits sein Name eingraviert – jedoch
war einer seiner Doktortitel vergessen worden. Na, das würde ein
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