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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten
Autoren: Katherine Pancol
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bewegen. Sie ging auf wie ein Hefekloß. Sie hatte ihre Wohnung auch deshalb gewählt, um im Bois de Boulogne joggen zu können. Sie richtete sich auf, zog den Bauch ein und nahm sich vor, mehrere Minuten so steif sitzen zu bleiben, um ihre Muskeln zu trainieren.
    Passanten schlenderten gemächlich über den Bürgersteig. Andere drängten sich an ihnen vorbei und rempelten sie an. Ohne sich zu entschuldigen. Ein junges Paar ging eng umschlungen vorbei. Der Junge hatte einen Arm um die Schultern des Mädchens gelegt, das mehrere Bücher an die Brust drückte. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie lauschte aufmerksam.
    Wovon könnte mein nächster Roman handeln? Soll ich ihn in der Gegenwart spielen lassen oder in meinem geliebten zwölften Jahrhundert? Da kenne ich mich wenigstens aus. Ich kenne die Empfindsamkeiten dieser Epoche, die Verhaltensregeln in der Liebe, die gesellschaftlichen Umgangsformen. Was weiß ich denn schon über das heutige Leben? Nicht besonders viel. Ich lerne gerade erst. Ich lerne, mit anderen Menschen umzugehen, ich lerne, mit Geld umzugehen, ich muss alles noch lernen. Hortense weiß mehr darüber als ich. Zoé ist noch ein Kind, aber auch sie verändert sich zusehends. Sie träumt davon, so zu sein wie ihre Schwester. Genau wie meine Schwester damals für mich ein Vorbild war.
    Ich vergötterte Iris. Sie bestimmte mein Denken. Und nun dämmert sie im Halbdunkel eines Klinikzimmers vor sich hin. Ihr Blick ist leer. Sie streift mich mit einem Auge, während sich das andere in vagem Überdruss entzieht. Sie hört mir kaum zu. Einmal habe ich sie aufgefordert, dem Personal gegenüber etwas freundlicher zu sein, das sich so aufopferungsvoll um sie kümmert, und sie hat geantwortet: »Wie soll ich mit anderen leben, wenn ich nicht einmal mit mir selbst leben kann?« Und ihre Hand fiel kraftlos zurück auf die Decke.
    Philippe besuchte sie. Er bezahlte die Arztrechnungen, er bezahlte die Klinikrechnung, er bezahlte die Miete für ihre Wohnung in Paris, er bezahlte Carmens Lohn. Jeden Tag band Carmen, die treue, starrsinnige Gouvernante, Iris einen Blumenstrauß und brachte ihn ihr nach anderthalbstündiger Busfahrt und zweimaligem Umsteigen in die Klinik. Der Geruch der Blumen verdross Iris, und sie ließ sie vor die Tür stellen, wo sie verwelkten. Carmen kaufte feinste Kekse bei Mariage Frères, breitete die rosa Kaschmirdecke über das weiße Bett, legte ein Buch in Iris’ Reichweite, versprühte einen dezenten Raumduft und wartete. Iris schlief. Gegen achtzehn Uhr schlich Carmen auf Zehenspitzen hinaus. Und kam am nächsten Morgen mit neuen Opfergaben wieder. Joséphine schmerzten Carmens stumme Ergebenheit und Iris’ Schweigen.
    »Gib ihr doch ein Zeichen, sag ein paar freundliche Worte zu ihr … Sie besucht dich jeden Tag, und du siehst sie nicht einmal an. Das ist nicht nett.«
    »Ich brauche nicht nett zu sein, Joséphine, ich bin krank. Außerdem geht sie mir mit ihrer Liebe auf die Nerven. Lass mich doch einfach in Ruhe!«
    Wenn sie nicht der ganzen Welt überdrüssig war, sondern etwas Leben und Farbe wiedergewann, konnte sie sehr verletzend werden. Bei Joséphines letztem Besuch war ihr unverfänglicher Plauderton schnell hitziger geworden.
    »Ich hatte nur einen einzigen Vorzug«, hatte Iris gesagt, während sie sich in dem kleinen Taschenspiegel betrachtete, der immer auf ihrem Nachttisch lag, »ich war schön. Sehr schön. Aber selbst das entgleitet mir! Hast du die Falte hier gesehen? Die war gestern Abend noch nicht da. Und morgen kommt noch eine hinzu und dann noch eine und noch eine …«
    Mit einem Knall hatte sie den Spiegel zurück auf den Nachttisch geworfen und ihren kurzen Pagenschnitt glatt gestrichen. Eine Frisur, die sie zehn Jahre jünger wirken ließ.
    »Ich bin siebenundvierzig Jahre alt und habe alles versaut. Mein Leben als Ehefrau, mein Leben als Mutter, mein ganzes Leben … Und du erwartest allen Ernstes von mir, aufzuwachen? Wozu? Lieber schlafe ich.«
    »Und was ist mit Alexandre?«, hatte Joséphine leise gefragt, ohne selbst von ihrem Argument überzeugt zu sein.
    »Stell dich nicht dümmer, als du bist, Jo, du weißt ganz genau, dass ich nie eine Mutter für ihn war. Ich war eine flüchtige Erscheinung, eine Bekannte, ich könnte nicht einmal behaupten, eine Freundin: Ich langweilte mich in seiner Gegenwart, und ich habe den Verdacht, dass es ihm genauso ging. Du bist seine Tante, und trotzdem steht er dir näher als mir, seiner Mutter …«
    Die
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