Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der lange Weg zur Freiheit

Der lange Weg zur Freiheit

Titel: Der lange Weg zur Freiheit
Autoren: Nelson Mandela
Vom Netzwerk:
daß je schwächer er wäre, um so gefährdeter wäre der Verhandlungsprozeß. Um mit einem Gegner Frieden zu schließen, muß man mit ihm zusammenarbeiten, und der Gegner wird dein Freund.
     
     
    Obwohlder offizielle Wahlkampf für die Nationalversammlung nicht vor Februar 1994 beginnen sollte, stiegen wir nach Ratifizierung der neuen Verfassung bereits ernsthaft in die Kampagne ein. Das gab uns keinen Vorsprung, denn die National Party begann ihren Wahlkampf am Tag meiner Entlassung aus dem Gefängnis.
    Wenngleich die Wahlprognosen dem ANC einen satten Vorsprung gaben, hielten wir den Sieg zu keinem Zeitpunkt für abgemacht. Wir alle hatten Dutzende von Voraussagen gelesen, die bestimmte Parteien vorn sahen, die dann doch nur den zweiten Platz erreichten. Unser Gegner war erfahren, wohlorganisiert und finanziell gut ausgestattet.
    Unser Wahlkampf stand unter der fähigen Leitung von Popo Molefe, Terror Lekota und Ketso Gordhan, alten UDF-Aktivisten, geschickt in der Mobilisierung von Massen. Die Aufgabe war ungeheuer. Nach unserer Schätzung würden über 20 Millionen Menschen zu den Wahlurnen gehen, von denen die meisten zum erstenmal wählten. Viele unserer Wähler konnten nicht schreiben und lesen, und so würden sie wahrscheinlich schon von dem bloßen Gedanken an die Wahl eingeschüchtert werden. Nach Angaben der Unabhängigen Wahlkommission würden im ganzen Lande 10000 Wahllokale eingerichtet werden. Wir suchten über 100000 Menschen dafür auszubilden, bei der Wählerunterrichtung zu helfen.
    Das erste Stadium unserer Wahlanstrengungen bestand in Veranstaltungen, die als People’s Forums bekannt wurden. ANC-Kandidaten bereisten das ganze Land und hielten in Städten und Dörfern Versammlungen ab, um sich über die Hoffnungen und Ängste, Gedanken und Beschwerden unserer Leute zu informieren. Die People’s Forums ähnelten den städtischen Zusammenkünften, die Bill Clinton in Amerika als Kandidat auf dem Wege zur Präsidentschaft abhielt. Die Forums waren Volksparlamente, nicht unähnlich den Versammlungen der Häuptlinge im Großen Platz, die ich als Junge beobachtet hatte.
    Die People’s Forums bereiteten mir großes Vergnügen. Ich begann damit im November in Natal und reiste dann weiter ins PWV-Gebiet, in das nördliche Transvaal und in den Oranje-Freistaat. Täglich nahm ich an drei oder vier Forums teil. Die Menschen selbst genossen sie über die Maßen. Niemand hatte sie jemals zuvor gefragt, was ihrer Meinung nach in ihrem Land geschehen sollte.
    Nachdem wir die Anregungen aus den Volks-Foren gesammelt hatten, bereisten wir das Land, um den Menschen unsere politische Botschaft zu vermitteln. Einige Mitglieder des ANC wollten aus dem Wahlkampf schlicht eine »Befreiungs«-Wahl machen und die Leute auffordern, für uns zu stimmen, weil wir ihnen die Freiheit verschafften. Doch wir beschlossen vielmehr, ihnen eine Vision von Südafrika anzubieten, wie wir es zu schaffen hofften. Die Menschen sollten sich nach unserer Meinung nicht nur für den ANC entscheiden, weil wir die Apartheid über 80 Jahre hin bekämpft hatten, sondern weil wir am besten qualifiziert waren, jenes Südafrika zu erschaffen, in dem sie zu leben hofften. Ich hatte das Gefühl, unsere Kampagne sollte der Zukunft und nicht der Vergangenheit gelten.
    Der ANC entwarf ein 150 Seiten umfassendes Dokument, das als Reconstruction and Development Program bekannt geworden ist. Es skizziert unseren Plan, Arbeitsplätze durch öffentliche Arbeiten zu schaffen, eine Million neue Häuser zu bauen, die mit elektrischem Strom versorgt werden und Toiletten mit Wasserspülung erhalten sollten; die primäre Gesundheitsfürsorge auszuweiten und für alle Südafrikaner eine zehnjährige kostenlose Schulerziehung einzuführen; das Land durch einen eigens dafür eingerichteten Gerichtshof neu zu verteilen und die Besteuerung von Grundnahrungsmitteln abzuschaffen. Wir wollten uns auch für ausgedehnte Fördermaßnahmen sowohl im privaten wie im öffentlichen Sektor einsetzen. Das Dokument wurde in ein einfacheres Manifest unter der Bezeichnung »A Better Life for All« (»Ein besseres Leben für alle«) übertragen, dessen Titel wiederum zum Wahlslogan des ANC wurde.
    Wie wir den Menschen erklärten, was wir zu tun gedächten, so mußten wir ihnen meiner Ansicht nach auch erklären, was wir nicht würden tun können. Viele Menschen hatten das Gefühl, nach einer freien, demokratischen Wahl würde sich das Leben über Nacht ändern, doch das wäre
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher