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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten
Autoren: Alexandra von Grote
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auf. Fürs Erste unfähig, auch nur ein einziges Wort zu sprechen, stieß sie weitere Klagelaute aus.
    »Ganz ruhig, Liebes, ich bin ja da. Es ist alles vorbei. Ich bin da!«, flüsterte LaBréa. Mit einer Geste, die ihr unendliche Mühe zu bereiten schien, streckte sie ihre Arme nach ihm aus. Vorsichtig zog er ihren Kopf an seine Brust. Ihre Stimme klang rau, wie gebrochen.
    »O Maurice! Ich hatte solche Angst! Das Baby! Ich weiß nicht, ob unser Baby …«
    Sie brach ab und begann zu schluchzen. LaBréa versuchte, sie zu beruhigen, und fragte dann: »Was hat er dir getan, als er auf dir lag? Hat er …?«
    Céline stöhnte. »Ich weiß es nicht. Er, er, er …« Sie suchte nach Worten, das Sprechen fiel ihr immer noch schwer. »Erst hat er mich gefesselt und ging raus. Plötzlich kam er wieder rein und trug diese entsetzliche Maske. Dann hat er sich neben mich gesetzt. Irgendwann ist er aufgestanden und hat die Gasflasche aufgedreht. Ich hab’s sofort gerochen und geahnt, was er vorhat.«
    »Aber es ist ihm nicht gelungen! Jetzt ist alles vorbei. Der Krankenwagen ist da.«
    Als der Notarzt und zwei Sanitäter zu ihnen traten, erhob sich LaBréa auf unsicheren Beinen. Er hörte, wie Claudine dem Arzt von der Schwangerschaft erzählte. Céline lebte, sie war bei Bewusstsein und besaß ihr volles Erinnerungsvermögen. Er und seine Leute hatten sie gerade noch rechtzeitig befreit.
    Der Geiselnehmer lag unter einer Baumgruppe bäuchlings auf der regennasssen Erde. Franck hatte ihm zusätzlich eine Fußfessel angelegt und stand neben ihm. Langsam ging LaBréa auf den Mann zu. Nachdem er einen Moment auf ihn hinabgestarrt hatte, riss er ihn hoch und lehnte ihn gegen einen der Bäume. Der Mann blickte ihn an. Lag da so etwas wie Spott und Genugtuung in den dunklen Augen dieses Mörders?
    Eine unbändige Wut nahm von LaBréa Besitz. Er schlug dem Geiselnehmer mit der Faust ins Gesicht. Der Mann taumelte und krachte seitlich mit der Wange gegen den Baumstamm. Aus seiner Nase floss Blut. Mit eisernem Griff hielt LaBréa ihn fest und schlug noch einmal zu. Der Geiselnehmer fiel zu Boden. LaBréa zerrte ihn erneut hoch, drückte ihn gegen den Baum und verpasste ihm den nächsten Faustschlag.
    »Chef, Chef! Nein, nicht!«, rief Franck.
    Wieder holte LaBréa aus, noch einmal traf er die Nase. Der Geiselnehmer, der bisher keinen Ton von sich gegeben hatte, ihn nur unverwandt angesehen hatte, stieß einen lauten Schmerzensschrei aus. Sein Gesicht war inzwischen blutüberströmt, und Blut bedeckte auch LaBréas Hand. Wie in Trance schlug er erneut zu. Der Mann schrie, dann war Franck da, packte LaBréas Arm.
    »Aufhören, Chef! Sie bringen ihn sonst noch um!«
    Schwer atmend ließ LaBréa den Mann los, der auf dem Boden zusammensackte und laut stöhnte.
    »Ja, umbringen sollte ich ihn!« LaBréa hörte seine Stimme wie von weit her. »Wissen Sie, wer das ist, Franck?« LaBréa strich sich die Haare aus der Stirn. »Das ist einer der Typen, die damals in Marseille meine Frau ermordet haben! Eins von diesen Schweinen, die sie in ihrer Arztpraxis überfallen und wegen fünfundsiebzig Euro abgestochen haben!«
    Die Erinnerungen verdichteten sich, überrollten ihn. Seit Monaten derselbe Albtraum, immer wieder, in regelmäßigen Abständen. Das Sterben seiner Frau, hundertfach durchlitten in unruhigen Nächten. Anne steht am anderen Ufer des Sees und winkt ihm aufgeregt zu. Das Wasser im See, eine dunkle, glatte, fast ölige Fläche, schäumt plötzlich auf und überspült den Ufersaum, von dem aus sie ihm weiter Zeichen gibt. Er dreht sich um. Die Häuser der Stadt ragen in den Himmel, höher als gewöhnlich. Graues Licht, als wäre die Welt längst untergegangen. Als er erneut auf den See blickt, ist Annes Gestalt am gegenüberliegenden Ufer verschwunden. Er sucht das Wasser mit seinen Augen ab. Da schwimmt sie direkt auf ihn zu, den Kopf mühsam über die Fluten gereckt. Sie versucht immer noch, ihm zuzuwinken. Jetzt umspült das Wasser seine Füße. Warm dringt es in sein Schuhwerk ein. Als er genauer hinsieht, ist es Blut. Angst erfasst ihn. Wieder hat er Anne aus den Augen verloren. Wo ist sie? Da, ihr Kopf wippt auf den Wellen des Sees, dessen Farbe er jetzt deutlich als dunkelrot erkennt. Es ist, als bewegte Anne sich auf der Stelle, ja, als würde sie sich sogar wieder entfernen. Über den See schießt plötzlich eine Motorjacht heran. Das aufheulende Geräusch bricht sich an den Häuserfassaden und wird als Echo
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