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Der Landarzt (German Edition)

Der Landarzt (German Edition)

Titel: Der Landarzt (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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Puderquastenform erhoben. Der Zustand dieses Portals verriet eine Sorglosigkeit des Besitzers, die dem Offiziere zu mißfallen schien; er runzelte die Augenbrauen wie ein Mann, der notgedrungen auf irgendeine Illusion verzichten muß. Wir sind gewohnt, andere Leute nach uns zu beurteilen, und wenn wir sie auch gerne von unseren Fehlern freisprechen, verurteilen wir sie doch streng, weil sie unsere guten Eigenschaften nicht besitzen. Wenn der Major wünschte, daß Monsieur Benassis ein sorgsamer oder methodischer Mann sei, kündigte seine Haustüre wahrlich eine vollkommene Gleichgültigkeit dem Eigentum gegenüber an. Ein auf häusliche Oekonomie haltender Soldat, wie Genestas einer war, mußte nach dem Portal sofort auf das Leben und den Charakter des Unbekannten schließen: was er trotz seiner Umsicht auch durchaus nicht unterließ. Die Tür war halboffen, eine weitere Sorglosigkeit! Im Vertrauen auf diese ländliche Unbekümmertheit ging der Offizier ohne weiteres in den Hof, band sein Pferd an die Stäbe des Gitterwerks, und während er den Zügel festknotete, drang ein Wiehern aus einem Stall, nach welchem das Pferd und der Reiter unwillkürlich die Augen wandten; ein alter Diener öffnete die Türe und zeigte seinen Kopf, der mit einer dortzulande üblichen roten Leinenmütze bedeckt war, die vollkommen der phrygischen Mütze gleicht, mit der die Freiheit geschmückt ist. Da es dort Platz für mehrere Pferde gab, bot der Biedermann, nachdem er Genestas gefragt hatte, ob er Monsieur Benassis zu besuchen komme, ihm für sein Pferd die Gastfreundschaft des Stalles an, indem er das Tier, welches sehr schön war, voll Zärtlichkeit und Bewunderung betrachtete. Der Major folgte seinem Pferde, um zu sehen, wo es aufgehoben werden sollte. Der Stall war sauber, Streu gab es genug, und Benassis' beide Pferde hatten jenes glückliche Aussehen, das unter allen Pferden ein Pfarrerspferd herauserkennen läßt. Eine Magd, die aus dem Hausinnern auf die Freitreppe hinausgetreten war, schien pflichtgemäß auf die Fragen des Fremdlings zu warten, dem der Stallknecht bereits mitgeteilt hatte, daß Monsieur Benassis ausgegangen sei.
    »Unser Herr ist nach der Kornmühle gegangen,« sagte er. »Wenn Sie ihn dort treffen wollen, brauchen Sie nur dem Pfad nachzugehen, der durch die Wiese führt, die Mühle liegt an ihrem Ende.«
    Genestas wollte lieber das Land sehen als wer weiß wie lang auf Benassis' Rückkehr zu warten und schlug den Weg nach der Kornmühle ein. Als er die unregelmäßige Linie, die der Flecken auf dem Bergabhange beschreibt, überschritten hatte, erblickte er das Tal, die Mühle und eine der reizvollsten Landschaften, die er noch je gesehen.
    Durch den Fuß der Berge gestaut, bildet der Fluß einen kleinen See, über dem sich die Bergzacken stufenweise erheben, indem sie ihre zahlreichen Täler durch die verschiedenen Farben des Lichts oder durch die mehr oder minder lebhafte Reinheit ihrer Grate, die alle mit finsteren Tannen bestanden sind, erraten lassen. Die erst kürzlich an dem Fall des Wildbachs in den kleinen See erbaute Mühle besitzt den Reiz eines alleinstehenden Hauses, das sich mitten in den Gewässern zwischen den Wipfeln mehrerer wasserliebenden Bäume verbirgt. Auf der anderen Flußseite, am Fuße eines an seinen Gipfeln durch die roten Strahlen der untergehenden Sonne in diesem Augenblick schwach erleuchteten Berges sah Genestas ein Dutzend verlassener Strohhütten ohne Türen und Fenster. Ihre beschädigten Dächer ließen ziemlich große Löcher sehen; die Ländereien ringsherum bildeten vollkommen bestellte und angesäte Felder, ihre ehemaligen, in Wiesen umgewandelten Gärten wurden durch Wasserläufe benetzt, die mit ebensoviel Kunst angelegt worden waren wie im Limousin. Der Major blieb unwillkürlich stehen, um die Trümmer dieses Dorfes zu betrachten.
    Warum sehen Menschen alle, selbst die bescheidensten Ruinen nicht ohne eine tiefe Bewegung an? Zweifelsohne sind sie für sie das Bild des Unglücks, dessen Last von ihnen so verschieden empfunden wird. Die Friedhöfe lassen an den Tod denken, ein aufgegebenes Dorf läßt an die Mühen des Lebens denken; der Tod ist ein vorhergesehenes Unglück, die Mühen des Lebens sind unendlich. Ist das Unendliche nicht das Geheimnis der großen Melancholien?
    Der Offizier hatte die steinige Mühlenstraße erreicht, ohne daß er sich die Preisgabe des Dorfs hätte erklären können; er fragte einen auf den Getreidesäcken vor der Haustüre sitzenden
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