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Der Landarzt (German Edition)

Der Landarzt (German Edition)

Titel: Der Landarzt (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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buschigen Augenbrauen, seine dick und äderig gewordene Nase, seine gelbe und durch rote Flecke marmorierte Hautfarbe, alles kündigte bei ihm den Fünfziger und die harte Arbeit seines Berufes an. Der Offizier konnte den Umfang des augenblicklich mit einer Mütze bedeckten Kopfes nur mutmaßen, doch obwohl er unter dieser Hülle verborgen war, schien er ihm einer jener, sprichwörtlich »Quadratschädel« genannten Köpfe zu sein. Durch die Verbindung, in der er mit jenen Männern voller Energie gestanden hatte, die Napoleon an sich zog, gewöhnt, die Züge der zu großen Dingen bestimmten Menschen zu unterscheiden, erriet Genestas ein Geheimnis in diesem ihm unbekannten Leben und sagte sich, als er das ungewöhnliche Gesicht erblickte:
    Durch welchen Zufall ist er Landarzt geblieben?
    Nachdem er die Physiognomie genau betrachtet hatte, die trotz ihrer Analogien mit anderen menschlichen Gesichtern eine geheime Existenz verriet, die mit all den scheinbaren Gewöhnlichkeiten nicht im Einklang stand, teilte er notwendigerweise die Aufmerksamkeit, die der Arzt dem Kranken widmete; und der Anblick dieses Kranken veränderte den Gang seiner Ueberlegungen vollkommen.
    Trotz der unzähligen Bilder seines Militärlebens fühlte der alte Reiter eine von Entsetzen begleitete Regung der Ueberraschung, als er ein menschliches Antlitz gewahrte, auf welchem offenbar niemals der Gedanke geglänzt hatte; ein fahles Gesicht, auf dem sich das Leiden naiv und schweigsam ausdrückte, wie auf dem Antlitz eines Kindes, das noch nicht zu sprechen weiß und nicht mehr schreien kann, kurz das ganz tierische Gesicht eines alten sterbenden Kretinen. Der Kretine war die einzige Abart des menschlichen Geschlechts, die der Eskadronschef noch nicht gesehen hatte. Wer hätte beim Anblick einer Stirn, deren Haut eine dicke runde Falte bildete, zweier Augen, die denen eines gekochten Fisches glichen, eines, mit kurzen verkümmerten Haaren, denen die Nahrung fehlte, bedeckten Schädels – eines ganz eingedrückten und der Sinnnesorgane völlig entbehrenden Schädels – nicht wie Genestas ein Gefühl unfreiwilligen Abscheus vor einem Geschöpf empfunden, welches weder die Reize des Tieres noch die Vorzüge des Menschen aufwies, das niemals weder Vernunft noch Instinkt besessen, niemals eine Art von Sprache weder verstanden noch gesprochen hatte? Indem man dies arme Wesen am Ende einer Laufbahn, die kein Leben war, ankommen sah, schien es schwierig zu sein, ihm ein Bedauern entgegenzubringen. Die alte Frau indessen betrachtete es mit einer rührenden Unruhe und fuhr mit ihren Händen über den Teil der Beine, die das heiße Wasser nicht benetzt hatte, mit ebensoviel Zuneigung, wie wenn es ihr Ehemann gewesen wäre. Benassis selber nahm, nachdem er dies tote Antlitz und die lichtlosen Augen betrachtet hatte, sanft behutsam des Kretinen Hand und fühlte ihm den Puls.
    »Das Bad wirkt nicht,« sagte er, den Kopf schüttelnd, »legen wir ihn wieder ins Bett!«
    Er hob selber diese Fleischmasse empor und trug sie auf die elende Matratze, von wo er sie zweifelsohne hergeholt hatte, streckte sie dort sorgsam aus, indem er die fast kalten Beine geradebog und Hand und Kopf mit der Sorgfalt bettete, die eine Mutter ihrem Kinde angedeihen lassen mag.
    »Gewiß, er wird sterben,« fügte Benassis hinzu, der am Bettrande aufrecht stehenblieb.
    Die Hände in die Hüften gestützt, sah die alte Frau den Sterbenden an und ließ einige Tränen rinnen. Genestas selbst blieb schweigsam, ohne sich erklären zu können, warum der Tod eines so wenig anziehenden Wesens solch einen Eindruck auf ihn machte. Instinktiv teilte er schon das grenzenlose Mitleid, das diese unglücklichen Geschöpfe in den der Sonne beraubten Tälern, wohin die Natur sie geworfen hat, einflößen. Rührt dieses Gefühl, das bei den Familien, denen die Kretins angehören, in religiösen Aberglauben entartet ist, nicht von der schönsten der christlichen Tugenden, der Barmherzigkeit her, und von dem für die soziale Ordnung so überaus nützlichen Glauben, dem Gedanken an zukünftige Belohnungen, dem einzigen, der uns unsere Unglücksfälle ertragen läßt? Die Hoffnung, die ewige Glückseligkeit zu verdienen, hilft den Eltern dieser armen Wesen und denen, welche um sie herum leben, die Sorgen der Mütterlichkeit und ihres erhabenen Schutzes auszuüben, den man einer untätigen Kreatur, die ihn anfangs nicht begreift und ihn späterhin vergißt, fortgesetzt angedeihen läßt. Eine wunderbare
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