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Der Kuss des Meeres

Der Kuss des Meeres

Titel: Der Kuss des Meeres
Autoren: Anna Banks
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bevor sie ihn sieht. Aber warum sollte er sich überhaupt die Mühe machen, sich zurückzuverwandeln? In seiner Tarngestalt passt sich seine Haut dem Wasser um ihn herum an. Alles, was sie erkennen würde, ist ein wässriger Klecks, der sie ans Ufer zieht. Aber selbst ohne seine Tarnung, wenn er zulassen würde, dass sie ihn sieht, wird ihr niemand glauben. Die Menschen werden darauf bestehen, dass sie das Bewusstsein verloren haben muss, zu viel Salzwasser geschluckt hat oder zu traumatisiert ist, um sich zu erinnern, was geschehen ist.
    Aber er will, dass sie es weiß, er will, dass sie ihn sieht. Aus irgendeinem Grund jenseits aller Vernunft will er, dass Emma sich an ihn erinnert. Weil er sie zum letzten Mal sehen wird. Es ist nicht nötig, ihr zu folgen, sie zu beobachten. Nach dem heutigen Tag hat er kein Interesse mehr an ihr. Ein Mensch kann sein Volk nicht einen. Nicht einmal ein atemberaubender.
    Atemberaubend? Rayna hat recht – du hast den Verstand verloren! Er stöhnt und beschleunigt sein Tempo. Da überrascht ihn Emmas Schrei.
    » Halt!«, brüllt sie.
    Galen hält inne. Aber Emma meint nicht ihn. Sie meint den Hai.
    Und der Hai bleibt, wo er ist.
    Emma schlingt beide Arme um Chloe und drückt sie an ihre Brust, um sie vor einem erneuten Angriff zu schützen. » Du kannst sie nicht haben! Lass sie in Ruhe! Lass uns beide in Ruhe!«
    Der Hai macht kehrt und zieht ab, fast als würde er schmollen.
    Galen hält die Luft an. Er beobachtet das Geschehen, bis die mächtige, geschmeidige Flosse in der Ferne verschwindet. Er versucht, es zu begreifen. Denn eins weiß er über Bullenhaie: Er weiß mit unumstößlicher Sicherheit, dass sie niemals klein beigeben. Sie sind aggressiv und unbarmherzig und gehören aus gutem Grund zu jenen Kreaturen, welche Syrena und Menschen gleichermaßen fürchten– Kreaturen, die, ohne zu zögern, den Nachwuchs beider Arten angreifen. Und dieses Exemplar hier hat gerade seine Mahlzeit aufgegeben, seine rechtmäßige Beute.
    Galen reißt sich los und richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf Emma, als er ihren erstickten Schrei hört. Sie hält Chloe immer noch umklammert und die beiden sinken immer tiefer. Emma zappelt mit den Beinen und rudert mit ihrem freien Arm. Auf ihrem Gesicht zeichnet sich kein Zorn mehr ab, sondern pure Verzweiflung. Furcht. Erschöpfung. Emma sieht aus wie ein richtiger Mensch.
    Galen hört, dass sich ein Geräusch nähert. Das sanfte Dröhnen eines Bootes. Rayna. Wird sie noch rechtzeitig kommen? Mit jeder Sekunde, die verstreicht, verliert Emma an Kampfgeist. Ihre Bewegungen werden unregelmäßig, sie schlägt ziellos mit ihrem Arm um sich.
    Vor lauter Unentschlossenheit ist Galen wie gelähmt. Sie ist nicht menschlich– sie kann nicht menschlich sein. Adrenalin mag einem Menschen helfen, den Atem anzuhalten, aber nicht so lange. Außerdem sprechen Menschen nicht unter Wasser– schon gar nicht, wenn sie dadurch kostbaren Sauerstoff opfern. Und Bullenhaie weichen nicht vor Menschen zurück– vor allem nicht vor so zierlichen wie Emma. Allerdings schrecken sie auch nicht vor Syrena zurück. Es sei denn, Dr. Milligan hat recht. Es sei denn, Emma besäße die Gabe des Poseidon.
    Aber warum hat sie sich dann nicht verwandelt, wenn sie eine Syrena ist? Sie hätte das Leben ihrer Freundin retten können. Und warum verwandelt sie sich jetzt nicht? Sicher weiß sie, dass ihre Freundin tot ist. Warum bemüht sie sich weiterhin um eine menschliche Gestalt? Kann sie mich spüren, so wie ich sie spüre? Galen schüttelt den Kopf. Er hat nicht genug Zeit, um über diese Dinge nachzudenken. Scheinbar ist Emma bereit zu ertrinken, um ihre Menschengestalt zu wahren– aus welchem Grund auch immer.
    Und das wird Galen nicht zulassen.
    Er stürzt auf sie zu. Das Boot ist in Sichtweite und bricht durch die Wellen auf der Oberfläche. So oder so, Emma wird gerettet werden. Als das Boot direkt über ihm bremst, hält Galen inne. Falls es nötig ist, kann er Emma jederzeit erreichen.
    Ein weißer Lichtstrahl durchdringt das Wasser und verharrt auf Emma und Chloe; zum ersten Mal fällt Galen auf, wie dunkel es geworden ist. Die Sonne muss längst untergegangen sein. Zwei Menschen stürzen sich in die Fluten und schwimmen direkt auf die Mädchen zu. Galen weiß, dass Rayna auch auf dem Boot sein muss und das Licht führt; ohne die Augen einer Syrena, die im Wasser sehen kann, hätten diese hilflosen Menschen sie niemals finden können– noch nicht einmal mit einem
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