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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka
Autoren: Nina Blazon
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sich nur noch an eine lange Nacht, in der ihm die Wirklichkeit entglitt, und an eine morgendliche Fahrt über eine tote, leere Newa. Das Nächste, was er wahrnahm, war die Gewissheit, dass er Thomas Rosentrost voller Inbrunst hasste, denn der Arzt verschlimmerte die Schmerzen um ein Vielfaches, indem er an den Wunden herumschabte. Die Apotheke und der Nebentrakt, in dem ansonsten die Vorräte lagerten, waren zu einer Krankenstation umgebaut worden. Es gab zahlreiche Verletzte, die von Trümmern umgerissen worden oder von den Bäumen gestürzt waren, auf denen sie Zuflucht gesucht hatten. Und einige andere Leute mit Schussverletzungen waren auch dort. Wenn die Sonne schräg durch die Fenster fiel, konnte Johannes beobachten, wie sich das Licht in den Glasflaschen mit den Monstren fing. Gespräche trieben aus dem Hauptraum zu ihm herüber. Einmal glaubte er die herrische, dröhnende Stimme des Zaren wahrzunehmen, dem Thomas Rosentrost streng, aber nicht unhöflich antwortete. Es gab laute Verhöre und geflüsterte Fragen und einmal, im Fieber, hörte Johannes sogar Marfas Stimme. Er lächelte und griff nach der Hand, die über seine Stirn strich. Das Seltsamste in dieser Zeit waren die Träume. Er sah sich in einen blauen Grenadiersrock gekleidet unter der Wasseroberfläche dahintreiben.
    Sonnenlicht zersplitterte über ihm, sein Herz schlug nicht, was ihm die Mühe des Atmens ersparte. Er war glücklich, aber gleichzeitig schmerzte ein jäher Verlust. Die Russalka wiegte ihn in ihren Armen, bis er einschlief.
    Erst Thomas Rosentrosts Stimme holte ihn an Land zurück. »Sie haben die Briefe gefunden!«
    Johannes, der sich noch unter Wasser befand, öffnete die Augen. Rosentrosts Gesicht waberte im Raum. »Briefe?«, fragte er.
    Der Arzt nickte. Seine Perücke kräuselte sich in neuer Pracht, aber sein graues Gesicht sah aus, als hätte er einige Nächte nicht geschlafen. »Die Briefe, die Karpakow und Derejew gewechselt haben. Derejew war sich seiner Sache offensichtlich so sicher, dass er es nicht für nötig befand, sie zu vernichten. Und die vermeintlichen Verwandten von Natascha Neglowna haben sich daraufhin plötzlich daran erinnert, dass sie für ihre Aussage gegen die Familie Brehm fürstlich bezahlt werden sollten.«
    »Das heißt, Onkel Michael …«
    »Frei wie ein Fisch«, sagte Rosentrost und achtete nicht darauf, dass Johannes bei seinen Worten zusammenzuckte. »Gestern sind sie wieder in ihr Haus zurückgekehrt.« Er machte eine Pause. »Es tut mir Leid, dass dein Freund ertrunken ist.«
    Johannes runzelte die Stirn und versuchte sich krampfhaft zu erinnern, wen Rosentrost meinen könnte, bis ihm einfiel, dass nur er und Marfa von Jelena wussten. »Ja«, sagte er. »Was … geschieht mit Derejew? Und Karpakow?«
    »Derejew? Nun, er ist der Mörder des Gottesnarren -ein Mann darf sich einiges leisten im Zarenreich, aber dafür hat einer der Grenadiere ihn getötet. Offiziell hat ihn ein fehlgegangener Schuss getroffen. Seinen Körper hat man bei der Festung Kronstadt aus dem Wasser gezogen. Und Karpakow ist im Verlies.«
    Johannes schauderte, als er an den wahnsinnigen alten Mann dachte, und er hatte Mitleid mit ihm.
    »Wie auch immer«, sagte Rosentrost. »Du bist in Sicherheit und die deinen auch. Dafür solltest du dem Himmel danken.«
    Johannes war immer noch nicht zufrieden. »Was ist mit den Nixen? Was sagt der Zar dazu?« Der Arzt sog die Luft durch die Zähne ein und blickte an ihm vorbei zum Fenster. »Du musst sie gesehen haben, Thomas«, bohrte Johannes weiter. »Sie waren da! Die Menschen standen auf den Festungswällen und haben auf die Newa geschaut. Selbst der Zar muss die Russalkas gesehen haben.«
    »Nun«, meinte der Arzt langsam. »Ich sollte das nicht sagen, was ich nun sage. Und du vergisst es gleich wieder.« Er beugte sich vor, damit niemand im Nebenzimmer seine Worte verstehen konnte. Im Nachmittagslicht wirkte sein strenges Gesicht wie aus Zedernholz geschnitzt. Aber Thomas, der Ungläubige, lächelte. »Über die Nixen redet niemand mehr. Am allerwenigsten der Zar. Eine Gruppe von Verschwörern habe zu viel gewagt, so heißt es. Und die Flut hat den Aufstand verhindert. Zeugen haben gestanden von Karpakow bestochen worden zu sein. Das ist die Version, die du dir einprägen solltest. Was du allerdings denkst und was du glaubst gesehen zu haben, das ist deine Entscheidung.« Er zwinkerte Johannes zu. »Mag sein, dass auch ich etwas in den Fluten gesehen habe. Möglicherweise
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