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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka
Autoren: Nina Blazon
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konnte ich einige Nächte nicht schlafen und hatte das Gefühl, mein alter Verstand bocke wie ein trotziges Pferd, das sich weigert die Vernunft als seinen Herrn anzuerkennen. Mag sein, dass auch der Zar die Russalkas gesehen hat, aber darauf kommt es nicht an. Peter wird keine Affäre daraus machen, glaube mir. Denke immer daran: Der Zar ist ein zweischneidiges Schwert. Und die sicherste Methode, sich damit nicht zu Tode zu bringen, ist die: Lerne es zu gebrauchen.«
    Johannes schluckte und ließ die Worte in sich nachklingen. Natürlich würde er Schweigen bewahren. Aber er würde nicht hier bleiben. Nicht für immer. Doch wenn er Sankt Petersburg verlassen sollte, eines Tages, das wusste er plötzlich ganz sicher, dann an Deck seines eigenen Schiffes.
    * * *
    Onkel Michael war blass, aber sein Gesicht rötete sich vor Freude, als er Johannes wohlbehalten in die Stube treten sah. Das Haus hatte unter der Flut gelitten. Immer noch hingen Decken und durchweichtes Leder zum Trocknen. Iwan verzog keine Miene, als er Johannes eintreten sah, sondern nickte ihm nur kurz zu und beugte sich wieder über einen Lederschurz, der vom Wasser hart geworden war. Iwan versuchte ihn mit Sattelfett wieder weich zu reiben.
    Das Leben ging weiter, begriff Johannes wohl erst in diesem Augenblick. Jeder nahm seine Arbeit wieder auf. Die Kanalbauer würden neue Gräben ausheben, diesmal tief genug, um bei der nächsten Flut die Überschwemmung im Zaum zu halten. Neue Arbeiter würden aus dem Zarenreich kommen, neue Bewohner aus den Städten. Fluchend würden sie die Häuser beziehen, die der Zar ihnen hier zu bauen befahl, und eines Tages sagen: So schlecht ist diese Stadt gar nicht.
    »Thomas ist wirklich ein Zauberer!«, rief Marfa und umarmte Johannes. »Vor ein paar Tagen sahst du noch aus wie der Todgeweihte auf der Bahre! Erinnerst du dich daran, dass ich dich besucht habe?«
    Johannes nickte und drückte seine Tante an sich. »Ja«, murmelte er. »Ich danke dir, Marfa!« Verlegen machte sie sich los, er sah, dass sie rot geworden war. »Es hat uns viel gekostet«, sagte sie leise. In ihrer alten brüsken Art wandte sie sich um und griff nach einer Holzschale, um ihm eine heiße Kascha zurechtzumachen.
    Einen Augenblick lang war er einfach glücklich. Es war wie Heimkehren nach einer langen Zeit der Entbehrungen und er ließ sich bereitwillig in dieses wohlige Gefühl fallen. Onkel Michael sagte nicht viel. Das war auch nicht nötig, denn der Brief, den er in schöner Schrift abgefasst hatte und Johannes vorlegte, sagte viel mehr. Johannes wurde verlegen, als er Zeile um Zeile las. Es stand alles darin, was Onkel Michael ihm niemals persönlich gesagt hätte. Es war eine Aufstellung seiner Lehrzeit, eine Abhandlung über seine Fähigkeiten und besonderen Stärken, ein Dank des Meisters für geleistete Dienste.
    »Du entlässt mich aus deinen Diensten«, stellte Johannes fest.
    Michael nickte. »Ein Gesellenbrief ist es nicht, denn bis zur Prüfung fehlen dir noch zwei Lehrjahre. Aber wenn du willst, steht es dir nun frei, in der Werft anzufangen. Es ist dein Weg, Johannes. Doch auch bei uns bist du immer willkommen.« Mit diesen Worten stand er auf und scheuchte die Gehilfen, die die Szene gespannt verfolgt hatten, in die Werkstatt.
    Iwan raffte das Leder an sich, erhob sich ebenfalls und folgte ihnen, ohne sich noch einmal nach Johannes umzusehen. Johannes lächelte.
    Viel später, als Johannes erfahren hatte, wie Marfa und Michael verhaftet und getrennt worden waren, als Marfa mit stockender Stimme über die vergangenen Schrecken berichtet hatte und weitere Stücke des Bildes sich zusammengefügten, zündete Marfa die erste Kerze an und setzte sich wieder zu Johannes an den Tisch. Sie holte die wertvollen Kristallschalen und schenkte sich und Johannes einen roten Wein ein, den er nie zuvor gekostet hatte. Schweigend prosteten sie sich zu. Es war kühl geworden, bald würde der Spätsommer in die ersten Herbststürme übergehen. Im Winter würden die Nächte undurchdringlich wie gefrorene Tinte sein. Es war Zeit, zu gehen – zurück zu seinem Lager bei Thomas Rosentrosts Kreaturen.
    Johannes starrte auf die Kiste, die Marfa auf den Tisch gestellt hatte. Verzogen und aufgeweicht war das Holz. Es kostete ihn einige Kraft, den Deckel zu öffnen, der sich nur widerwillig und mit einem wehleidigen Knirschen öffnete. Sein Mut sank bei dem Anblick, den er zwar erwartet hatte, der jedoch trotzdem erbärmlich und traurig war. Sein Leben
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