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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka
Autoren: Nina Blazon
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Stimme neben ihm. Wieder blinzelte er und erkannte eine Gestalt vor dem Horizont. Weiße Arme lagen auf dem Treibholz, ein Mädchengesicht sah ihn an. Die Augen schimmerten wie schwarzen Perlen.
    »Was?«, flüsterte er, denn seine Stimme war unwillig und schabte in seiner Kehle wie ein Hobel über sandiges Holz. Er räusperte sich.
    Die Russalka lächelte. »Wir haben das Versprechen erfüllt«, erklärte sie und bettete das Kinn auf die perfekten Hände. Ihre Fingernägel schimmerten.
    »Ja«, erwiderte Johannes bitter. »Ihr habt getötet auf Karpakows Geheiß – und ihn selbst habt ihr gerettet.«
    Ihr Lächeln wurde noch feiner. »Du verstehst nicht«, meinte sie nachsichtig. »Ein Leben nehmen oder ein Leben geben, so lautete der Pakt. Er wollte, dass wir Leben nehmen, das Leben des Zaren – aber wir retteten stattdessen seines. So war das Versprechen erfüllt.«
    Nur langsam sickerten ihre Worte in sein Bewusstsein. »Wenn ich ihn nicht hätte töten wollen, hättet ihr seinem Befehl folgen müssen?«
    Sie nickte.
    »Ihr musstet ihm das Leben retten – und der Befehl?«
    »Die Wasser haben wir zurückgeschickt.«
    »Aber die Stadt …«
    »Sie steht.« Sie verzog den Mund und Johannes wurde mit grimmiger Trauer bewusst, dass auch die Russalka einen Verlust erlitten hatte.
    »Nur der Narr und Jelena werden Sankt Petersburg nicht mehr sehen«, flüsterte er. Er hatte nicht geahnt, dass selbst die Nennung eines Namens mehr schmerzen konnte als ein Fausthieb. Aber es würde viel geben, was er lernen musste. Atmen zum Beispiel. »Nun, Mitjas Wunsch ist erfüllt«, sagte er.
    Die Russalka strich sich ihr smaragdschwarzes Haar aus der Stirn, eine Geste der Verlegenheit und der Trauer. »Vielleicht. Wünschen ist so einfach für euch – mit dem erfüllten Wunsch zu leben dagegen so schwer.«
    »Nicht im Tod«, erwiderte er.
    »Ja«, wisperte sie. »Seine Seele ist nun Teil des Meeres. Ich höre ihn lachen.«
    Das Bild vor seinen Augen verschwamm. Johannes brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er weinte. Auf seinem vom Wind gekühlten, nassen Gesicht brannten die Tränen wie heißes Wasser.
    Die Russalka sah ihn entsetzt an. »Was ist?«, rief sie. »Warum weinst du?«
    »Warum?«, brachte er hervor. »Warum wohl, du Bestie! Jelena – erinnerst du dich an sie? Wie konntest du sie im Stich lassen? Hörst du sie? Hörst du sie auch lachen?«
    »Im Augenblick nicht«, antwortete die Nixe. »Aber vielleicht ändert sich das, sobald sie aufwacht.« Beim Blick in sein verblüfftes, zorniges Gesicht musste sie kichern. Das Holz schlingerte, als Johannes sein Gewicht verlagerte und sich umwandte. Etwas, das die ganze Zeit hinter ihm gelegen hatte, kam ins Rutschen. Er konnte gerade noch danach greifen. Bevor der Körper, der am Rande des Treibguts gelegen hatte, in die Fluten driftete, gelang es ihm, ein Handgelenk zu fassen. Sein Mund war mit einem Mal trocken wie ein Sack voll Sägemehl. Vorsichtig zog er an dem Unterarm, den er nie wieder losgelassen hätte – für alle Schätze der Welt nicht. Schwach nur spürte er unter seinen Fingern einen Pulsschlag. Sie lebte! Es gelang ihm, Jelena behutsam wieder auf das Holz zu ziehen. Eine glitzernde Kaskade wie von einem Springbrunnen rieselte auf das Boot herunter. Übermütig hatte die Russalka sich im Wasser herumgeworfen. Johannes nahm Jelena in die Arme und drückte sie an sich.
    »Ich habe ihr etwas geschenkt«, sagte die Russalka. »Einen Kuss – genug Atem, um das Herz schlagen zu lassen, bis ich sie vom Grund holen konnte.«
    »Warum hast du mich nicht geküsst, als du mich durch den Fluss getragen hast?«
    »Du verschenkst deine Küsse vielleicht wahllos – ich nicht.«
    In diesem Moment verkrampfte sich der Körper in seinen Armen. Jelena würgte, ihre Lider flatterten. Mühsam schlug sie die Augen auf und sah Johannes an, als würde sie ihn nicht erkennen. Widerwillig ließ er es zu, dass sie sich aus seiner Umarmung wand. Auf Knie und Hände gekauert hustete sie, bis er schon befürchtete, sie würde nun, da sie nicht ertrunken war, stattdessen ersticken.
    Hinter der Russalka erschien ein Gesicht, dann ein weiteres, Strudel bildeten sich, als nach und nach die Russalkas auftauchten und das zertrümmerte Boot umkreisten. Jelena schlug die Hände vor den Mund und betrachtete die Wesen, als würde sie sie zum allerersten Mal sehen. Bei der Russalka, ihrer Russalka, verharrte sie.
    »Ich danke dir«, sagte die Nixe mit ihrer Flussstimme.
    Die Sonne
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