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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka
Autoren: Nina Blazon
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der Mund offen stehen, als er sah, was alle sahen: Die Strähnen, an denen kein Schlamm klebte, schimmerten grünschwarz wie das Wasser eines tiefen Sees unter einem Gewitterhimmel.
    Ein hoher Schrei ließ die Gebete verstummen. Derejew ließ das Tuch los und fuhr herum. Ein großer junger Mann torkelte in die Mitte des Kreises und warf sich neben der Bahre auf die Knie. Sein kantiges Gesicht wäre hübsch gewesen, wenn der lodernde Blick und die Grimasse des Wahnsinns es nicht entstellt hätten. Der zerschlissene taubenblaue Soldatenrock, der früher einem Feldgrenadier gehört haben musste, schlotterte um seinen Körper und bot in Verbindung mit den groben, sackartigen Hosen ein groteskes Bild. Jeden anderen hätte Derejew von seinen Soldaten verjagen oder sogar zusammenschlagen lassen, aber das hier war Mitja, der Gottesnarr. So schwieg Derejew nur und ließ den heulenden Wahnsinnigen gewähren. Unter allen Bräuchen und Verhaltensweisen, die Johannes in diesem seltsamen Land bisher kennen gelernt hatte, war dies eine der befremdlichsten: Selbst der jähzornigste Russe wurde freundlich und nachsichtig, wenn er sich einem Schwachsinnigen gegenübersah. Sie wurden nicht verspottet oder versteckt wie in Johannes’ Heimatdorf in der Nähe von Magdeburg. Hier galten sie als von Gott ausgewählte Narren.
    »Der Himmel blutet«, stammelte Mitja. »Erde im Flussbett, Heuschrecken ertrinken in der steinernen Flut.« Speichel lief ihm aus dem Mund und tropfte auf die zerlumpten Ärmelaufschläge seines Uniformrocks. »Feuer fällt, wenn Fische fliegen!« Seine Stimme schraubte sich in die Höhe, bis er keine Luft mehr bekam. Die Menge flüsterte. Er sprang auf und deutete auf die bedeckte Tote. Röchelnd holte er Luft und schrie: »Russalka!« Der Arbeiter, der vor Johannes stand, wich vor Schreck so schnell zurück, dass er gegen Johannes prallte. Mit einem Fluch stieß der Mann ihn grob zu Seite und floh. »Russalka«, murmelte eine Bauersfrau und bekreuzigte sich. Dann drängte sie sich ebenfalls an Johannes vorbei und lief weg.
    »Du! Zimmermann! Komm her!«, erscholl Derejews donnernde Stimme. Johannes begriff, dass er gemeint war, und ging zögernd durch die Menge, die ihm nun so schnell Platz machte, als hätte er die Pest. Viele unfreundliche Blicke trafen ihn, aber die Leute schwiegen. Am Rand des freien Platzes, der sich um die provisorische Bahre gebildet hatte, blieb Johannes stehen. Der Gottesnarr war auf den Knien zusammengesackt und betete flüsternd eine unverständliche Litanei. In Derejews Stirn hatte sich eine tiefe Zornesfalte eingegraben. Mit argwöhnischem Blick betrachtete er die Menge. »Das Mädchen ist ertrunken!«, sagte er laut. Johannes wunderte sich darüber, dass Derejew eine Erklärung abgab. Verstohlen warf er einen Blick auf den Arm, der immer noch unter dem schmutzigen Tuch hervorragte. Die Haut war so weiß – es konnte kein Mädchen aus dem Volk sein. Derejews Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Lauf zu deinem Onkel und sage ihm, er soll die Werkstatt freiräumen. Los!«
    Johannes nickte und rannte los, froh den Platz verlassen zu können. Über die verschlammten Pfade führte sein Weg am Südufer der Newa entlang. An manchen Stellen waren die Wege mit Eichenbrettern ausgelegt. Wie jeden Tag waren auch heute die Lastenschlepper unterwegs, die Schauerleute verluden Holz, Ziegel und Stein auf Schiffe und Fuhrwerke, je nachdem wohin das Baumaterial gebracht werden sollte. Die Arbeiter, die an den ersten Fundamenten für die Steinhäuser bauten, sahen kaum auf, als Johannes vorbeirannte. Die Werkstatt seines Onkels befand sich etwa eine Meile vom Ufer entfernt in nordöstlicher Richtung, ganz in der Nähe der Sumpfgebiete, die noch trockengelegt werden mussten. Eines Tages sollte sich am Newadelta eine gewaltige Stadt erheben. Aus Stein sollte sie bestehen, nicht wie Moskau zum größten Teil aus Holz. Aber im Augenblick war von der zukünftigen Pracht noch nicht viel zu erahnen. So gut wie alle Gebäude bestanden hier noch aus Holz; Erdwälle waren dort aufgeschichtet, wo eines Tages gewaltige Steinmauern jedem Angriff trotzen würden. Je weiter sich Johannes vom Fluss entfernte, desto schlammiger wurde der Boden, der wegen des Regens aufgeweicht war. Er keuchte bereits, als er an der kleinen Gruppe von Häusern ankam, in denen sich die Drechsler und Zimmerleute aus der Deutschen Vorstadt in Moskau angesiedelt hatten. Das Wohnhaus, in dem Johannes mit seinem Onkel, seiner Tante und
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