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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka
Autoren: Nina Blazon
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den Gehilfen lebte, erhob sich auf einem Fundament ein gutes Stück über dem Boden. Eine überdachte Treppe führte hinauf zur Tür. Durch die erhöhte Lage hatten die Bewohner die häufigen Überschwemmungen im Frühjahr, als das Eis auf dem Fluss schmolz, trockenen Fußes überstanden. Anders sah es mit der Werkstatt aus, die ebenerdig stand und wie ein grimmiger, länglicher Holzkoloss den Stürmen trotzte.
    »Marfa!«, schrie Johannes schon von weitem. Seine Schritte schlugen schwer auf die Treppenstufen. Im Inneren des Hauses war es dämmrig, nur das Feuer brannte im Ofen. Dort stand Johannes’ Tante, die Hände um einen Krug gekrampft. Ihr Gesicht war reglos wie immer, aber Johannes wusste, dass Marfa stets mit der schlimmsten aller möglichen Nachrichten rechnete. Keuchend holte er Luft. »Derejew bringt eine Tote«, brachte er heraus. »Wir sollen sie in der Werkstatt aufbahren.«
    Marfa zog die Augenbrauen zusammen, stellte den Krug ab und strich sich das widerspenstige braune Haar aus dem Gesicht. Ihre Augen blitzten wie graues Eis. »So, sagt Derejew das«, meinte sie trocken. »Dann gib Michael Bescheid!«
    * * *
    In der Wohnkammer war es an diesem Abend gedrängt voll. Die vier Gehilfen, die für gewöhnlich auf Holzpritschen in der Werkstatt schliefen, lagerten heute in der Stube. Außerdem schliefen hier Johannes und der alte Diener Iwan, nur durch einen dickeren Vorhang getrennt von der winzigen Kammer, die sich Johannes’ Onkel Michael und Marfa teilten. Das Haus war klein und in großer Eile gebaut worden, damit es noch vor den ersten Schneestürmen fertig wurde. Im nächsten Sommer, wenn alles gut ging, würden sie ein neues bauen. Nicht weit von hier, näher an der Newa. Schmuck würde es werden, steinern und geräumig.
    Sobald die Gehilfen die verhüllte Tote auf eine der Werkbänke gebettet hatten, war die Werkstatt verschlossen worden. Gegen Abend schlichen immer noch Bauern und auch einige Aufseher an der Werkstatt vorbei, tuschelten miteinander, hielten sich jedoch in sicherer Entfernung. Nun war es spät am Abend, trotzdem schimmerte eine milchige Helligkeit durch die Türritze und die Fensterläden. Die seltsamen nordischen Nächte, in denen die Sonne nie ganz unterging, machten es schwer, zu schlafen und morgens ausgeruht an die Arbeit zu gehen. Obgleich es Sommer war, fror Johannes, als er nun mit nacktem Oberkörper auf dem Schemel saß und seiner wortkargen Tante zusah, wie sie den Riss in seinem Hemd nähte. Wie viele russische Stadtbewohnerinnen trug sie ein Kleid mit langen, weiten Ärmeln, das nicht eng geschnürt war und beinahe orientalisch wirkte. Dort, wo früher eine Borte aus Goldstickerei den Ausschnitt geziert hatte, prangte nun ein einfaches Band aus blauem Stoff, das die einstige Zierde nur notdürftig ersetzte. Marfa und Michael hatten erst vor zwei Jahren geheiratet – in Moskau, im selben Monat, als Johannes in Russland angekommen war. Damals war ihm Marfa hochmütig erschienen und so ernst wie eine Heiligenfigur. Sie war zwanzig Jahre jünger als Onkel Michael und stammte aus verarmtem Adel. Von ihrem einstigen Reichtum war ihr nur der alte Iwan geblieben. Er mochte bestimmt schon sechzig Jahre alt sein, sein Bart reichte ihm bis auf die Brust. Wie die Eichenkommode, die bestickte Bettdecke, der Spiegel und die drei Trinkschalen aus Bergkristall, die Marfa mit in die Ehe gebracht hatte, war Iwan sozusagen Teil des Hausrats. Leibeigenen wie ihm gehörte nicht einmal ihr Leben. Ihre Herren konnten sie jederzeit verschenken, verkaufen oder misshandeln. Iwan allerdings hatte Glück, denn Marfa behandelte ihn wie einen Bediensteten und steckte ihm hin und wieder sogar eine Kopeke zu. Alleine schon für diese Gutherzigkeit mochte Johannes seine Tante, auch wenn sie ihm sonst immer noch streng und unnahbar erschien.
    »Das ist jetzt das dritte Hemd in zwei Sommern«, sagte sie und schnalzte missbilligend mit der Zunge.
    »Ich habe mit der Prügelei nicht angefangen«, verteidigte er sich. Sie kniff die Lippen zusammen und schob einen neuen Faden durch das Nadelöhr. Iwan betrachtete düster den Bluterguss auf Johannes’ Jochbein und schwieg. Einer der Gehilfen hustete rasselnd. Das feuchte Klima machte allen zu schaffen, und die unzähligen Stechmücken, die eine Plage waren und Fieber brachten, verschlimmerten die Situation noch. Johannes betrachtete seine geschwollenen Fingerknöchel und seufzte. Die Arbeit morgen würde schwer werden, aber er wusste, dass sein
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