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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka
Autoren: Nina Blazon
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strenger Onkel geprellte Knöchel nicht als Entschuldigung gelten lassen würde. In vielen Belangen des Lebens war Michael, der schon vor fast dreißig Jahren nach Russland gezogen war, selbst ein Russe geworden. Nur seine in vielen Lehr– und Arbeitsjahren erworbenen Handwerkertugenden, auf die er so stolz war – absolute Disziplin, Fleiß und Pflichterfüllung –, hatte er beibehalten und war dabei noch verbissener, als es Johannes’ Vater und seine Brüder je gewesen waren. Johannes hatte sich das Leben im Zarenreich anders vorgestellt. Es hatte nach Abenteuer und neuen Möglichkeiten geklungen, nach einer Freiheit, die er in der Enge seines Heimatdorfes nie gekannt hatte. Und da war noch etwas – das Meer! Unendliche Ozeane, die sich vor ihm auftaten. Ginge es nach Johannes, wäre er auf dem Schiff geblieben, das ihn von Hamburg aus um das Nordkap und über das Eismeer bis zum Hafen von Archangelsk gebracht hatte. Im Licht dieser Erinnerung vergaß er sogar die Kälte und die schwere Arbeit an Deck und sehnte sich so sehr, dass er sich einbildete, den schlingernden Tanz des Meeres unter seinen Füßen zu spüren. Stattdessen saß er hier, Land und Leute waren ihm immer noch fremd, auch wenn er inzwischen zumindest die Sprache recht gut beherrschte. Wehmütig dachte er auch an die Zeit in der Deutschen Vorstadt in Moskau zurück. Einzig und allein dort hatte er sich ein wenig zu Hause gefühlt. Apotheker und Handwerker aus den verschiedensten Ländern lebten dort, Kaufleute mit ihren Familien, aber auch Abenteurer, Söldner und nicht zuletzt viele schottische Royalisten, die vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat geflohen waren und in der Ausländervorstadt eine Zuflucht gefunden hatten. Hier dagegen sah Johannes sich plötzlich mit Leibeigenen und Arbeitern, Bauern und Soldaten aus allen Teilen des Zarenreiches zusammengepfercht. Obwohl es auch hier von Architekten, Arbeitern und Fachleuten aus Frankreich, Holland und England wimmelte, bekam er es als Lehrling nur zu oft zu spüren, dass die meisten der einfachen Leute die Ausländer verachteten.
    Der hustende Gehilfe war eingeschlafen und zitterte selbst jetzt noch. Johannes ließ seinen Blick zu dem Modellschiff aus Holz schweifen, das er noch in Moskau gebaut hatte. Die Sankt Paul stellte es dar, eine der großen Fregatten, die Zar Peter gehörten. Eines Tages, dachte er. Eines Tages habe ich so ein Schiff und dann werde ich mich an Piterburch erinnern und lachen. Nervös zupfte er an seinen Fingern. Dann würde er keine Ertrunkenen mehr sehen müssen. Nicht dass das Mädchen die erste Tote war, die er zu Gesicht bekommen hatte. In Moskau hatte er sogar einmal einem Arzt geholfen, das Opfer eines Raubmords in einer Seitengasse aufzusammeln und auf einen Karren zu legen. Aber das blasse Mädchen, das nebenan in der Werkstatt lag, beunruhigte ihn. Das Gesicht des Gottesnarren kam ihm wieder in den Sinn. »Marfa?«, fragte er leise. »Was ist eine Russalka?«
    Seine Tante sah von ihrer Näharbeit hoch. »Aberglaube«, antwortete sie trocken. »Man sagt, Russalkas kommen aus dem Reich der Toten und gehen dahin zurück.«
    »Dann sind sie also Gespenster.«
    Marfa zog den Mundwinkel hoch, unwillig noch mehr zu diesem Thema zu sagen. »Die Bauern glauben, Russalkas seien ertrunkene Mädchen. Sie wohnen vor allem in Weihern und haben einen Fischschwanz. Im Sommer verlassen sie das Wasser und tanzen in den Wäldern. Warum willst du das wissen?«
    Ihr scharfer Blick machte ihn nervös, im nächsten Moment wurde ihm bewusst, dass er sich ertappt fühlte. »Mitja hat die Tote so genannt«, antwortete er. »Und die Leute am Ufer haben sich bekreuzigt.«
    »Der Gottesnarr spricht die Wahrheit, denn die Wahrheit liegt in Gott«, murmelte Iwan. Manchmal hatte Johannes das Gefühl, dass auch Iwan einen guten Gottesnarren abgeben würde.
    »Hör zu, Johannes«, sagte Marfa. Sie hatte nicht die Angewohnheit, ihm russische Namen zu geben, sondern sprach seinen Namen sehr korrekt auf Deutsch aus. »Du weißt, was Zar Peter von solchem Aberglauben hält. Lass niemandem zu Ohren kommen, dass du solchen Unsinn glaubst.« Sie sah ihn noch einmal scharf an – ein Blick, der sich anfühlte, als wäre seine Stirn ein durchsichtiges Blatt Papier, hinter dem sich seine Gedanken abzeichneten wie die Umrisse von Schattenpuppen. »Und bitte mach keine Dummheiten«, setzte Marfa prompt hinzu. »Ich will dich nicht erwischen, wie du in die Werkstatt schleichst, hörst du? Wer weiß,
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