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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka
Autoren: Nina Blazon
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auf. Jetzt fiel ihm ein, dass er sich nicht überlegt hatte, wie er wieder ins Haus kommen würde. Die Werkstatt war dunkel, aber durch die hölzernen Ritzen fiel genug Licht, dass er die Umrisse der Handwerksgegenstände erahnen konnte – Sägen hingen an den Wänden und glänzten wie dunkles Wasser. Schlafenden Tieren ähnlich kauerten Tische und die kleineren Werkbänke im Raum. Mitten unter ihnen erhob sich die große Bank, auf der Onkel Michael die größeren Keilhölzer zurechtsägte. Sie war leer. Johannes kniff die Augen zusammen und sah noch genauer hin. Kein Zweifel – auf der Werkbank lag nur noch das große Tuch, mit dem die Tote zugedeckt gewesen war. Ein Teil des Stoffes hing bis zum Boden hinunter, als hätte die Person ihn beim Aufstehen mit sich gezogen. Johannes erschrak bei diesem Gedanken. Sie konnte nicht aufgestanden sein, sagte er sich. Sie war tot. Trotzdem fielen ihm unwillkürlich Iwans Geschichten ein, die von Toten erzählten, die während der Trauerwache mit klappernden Zähnen und blind tastenden Leichenfingern auf der Suche nach den Lebenden um ihren Sarg herumliefen. Zu allem Überfluss hörte er etwas – ein leichtes Schleifen, kaum wahrnehmbar und doch vorhanden. Fast hörte es sich so an, als würde jemand im Raum atmen. Er lauschte, doch das Geräusch war schon verschwunden. Vielleicht hatte er sich getäuscht oder die Geräusche, die von außen hereindrangen, spielten ihm einen Streich. Mit weichen Knien ging er auf die Werkbank zu. Ein neuer Laut ließ ihn zusammenfahren. Es war ein leises Klopfen, das direkt von der Bank kam. Zögernd streckte Johannes die Hand aus und berührte das Tuch. Es war nass – Tropfen fielen zu Boden und trafen mit dem sachten Klopfgeräusch, das er eben gehört hatte, auf dem Holz auf. Irgendjemand hatte die Leiche aus der Werkstatt geschafft. Ihr Haar war nass gewesen und hatte den Stoff durchgeweicht. Beklommen betrachtete er die leere Grabstätte und gestand sich endlich ein, warum die Tote ihn so interessierte. Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie er und seine Familie in einer leeren Kirche für die Seele seines Bruders gebetet hatten. Auch Simon hatte es aufs Meer gezogen, aber er überlebte schon die erste Fahrt mit einem deutschen Handelsschiff nicht. Es sank bei einem Sturm vor Rügen. Sein Körper wurde nie gefunden.
    Mühsam schob Johannes den Gedanken an Simon beiseite und wollte sich weiter umsehen, als sein Blick auf den Boden fiel. Er stutzte. Da war noch mehr Wasser auf dem Fußboden – Lachen und Tropfen zogen sich bis zum Fenster.
    Ein Schleifen hinter ihm überraschte ihn, noch während er ungläubig auf die Abdrücke starrte. Instinktiv wirbelte er herum und machte eine abwehrende Handbewegung. Er hörte einen japsenden Laut, aber er traf nur eine lappenartige nasse Masse. Dann wurde es dunkel. Im ersten Moment wehrte er sich voller Panik, dann begriff er, dass ihm jemand das nasse Leichentuch über den Kopf geworfen hatte. Mit einem Keuchen entledigte er sich des schweren Stoffes und sah sich gehetzt um, bereit sich in einen Zweikampf zu stürzen. Doch alles, was er sah, war die Lücke in der Holzwand, durch die er selbst hereingekommen war. Der Angreifer hatte das Brett herausgedrückt und war geflohen. Draußen ertönten Rufe und wurden zu Tumult. Menschen wachten auf, Schritte polterten, als sich die Wächter an die Verfolgung des Eindringlings machten. Johannes drückte sich unter eine kleinere Bank und wartete darauf, dass die Tür aufflog und ein Wächter mit erhobenem Gewehr oder gezücktem Säbel vor ihm stand. Doch die Rufe entfernten sich, Stimmengewirr drang vom Haus herüber. Johannes nutzte seine Chance, zwängte sich durch die Öffnung und rannte. Er kam gerade rechtzeitig, um mit Iwan zusammenzustoßen, der in der Haustür erschien. Der alte Leibeigene runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts, sondern ließ ihn ein.
    * * *
    Mit schmerzenden Fingern schliff Johannes eine Querstrebe ab, die sein Onkel für ein Stützgestell benötigte. An Schlaf war nicht zu denken gewesen. Alle im Haus waren in Aufruhr, und in der Werkstatt stand Onkel Michael und diskutierte mit mehreren Hauptleuten, die den Raum inspizierten und das lose Brett begutachteten. In der Nähe der Werkstatt tauchten immer wieder bärtige Arbeiter in schlammverkrusteter, zerlumpter Kleidung auf. Sie deuteten auf das Gebäude, tuschelten und bekreuzigten sich. Johannes konnte sich eines mulmigen Gefühls nicht erwehren, als er sah, wie
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