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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka
Autoren: Nina Blazon
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Arbeit zum Erliegen.
    »Im Auftrag Seiner Majestät, des Zaren, lässt mein Herr, Konstantin Derejew, der betraut ist mit dem Todesfall einer Arbeiterin, die gestern aus der Newa gezogen wurde, Folgendes verkünden: Nach Befragung von Zeugen steht nun fest, dass die Ertrunkene Natascha Neglowna Toraschkina hieß und eine Arbeiterin aus Nowgorod war! Sie verletzte sich, als ein Holzstapel auf sie fiel. Als sie die Wunde im Wasser der Newa reinigen wollte, wurde sie ohnmächtig und ertrank. Auf Anordnung Seiner Majestät, des Zaren, wurde den Verwandten erlaubt ihren Leichnam mit sich zu nehmen.« Die Arbeiter senkten den Blick, einige bekreuzigten sich wieder. Der Soldat ließ den Blick über die Menge schweifen. Seine Stimme nahm einen noch strengeren Ton an. »Über diesen Unfall wünscht Seine Majestät, der Zar, keine Gerüchte mehr zu hören. Wer dabei angetroffen wird, wie er Lügen über die Tote verbreitet, wird mit fünfzig Knutenhieben bestraft.« Die Stille, die sich um sie herum senkte, war beredter als jeder Fluch. Selbst Johannes schauderte. Fünfzig Hiebe mit der Knute würde kaum jemand überleben. Die dünnen, langen Lederstreifen, die an einem kurzen Holzgriff befestigt waren, schlitzten bei jedem Schlag die Haut auf. Johannes hob den Blick und erschrak. Derejews Bote sah ihm direkt ins Gesicht. Die Warnung war unausgesprochen, aber so deutlich, als hätte er Johannes einen Lederriemen mitten durch das Gesicht gezogen. Erschrocken senkte Johannes den Kopf und fasste den Hammer fester. Er würde schweigen, natürlich, niemand war so dumm, sich einer solchen Anordnung zu widersetzen. Aber dennoch – irgendwo in seinem Inneren erwachte ein Funken von Trotz und eine Stimme, die ihm sagte, dass er sich nicht auf diese Weise befehlen lassen wollte. Noch deutlicher war die Erinnerung an die Hand der Toten. Sie war so weiß gewesen und ihre Fingernägel sauber und so rund wie Halbmonde. Nie im Leben hatte diese Hand eine Schaufel oder einen Holzpflock berührt.
    * * *
    Weitere Regenfälle weichten den Boden auf, der eben erst trockengelegt und befestigt worden war. Zwei Arbeiter, die versucht hatten von der Baustelle zu fliehen, wurden im Wald wieder eingefangen und mit zehn Knutenhieben bestraft, nur einem dritten Läufling gelang die Flucht. Der einzige Lichtblick in der Woche war eine Warenlieferung aus dem Umland, die Lebensmittel wie Gurken, Kohl, dreißig große Käfige mit Hühnern und Kisten voller Branntwein herbeischaffte. Die Preise für die Güter des täglichen Lebens, die zum größten Teil über ungerichtete Wege von weit her herbeigeschafft werden mussten, machten Johannes jedes Mal von neuem schwindeln. Auch wenn seine Familie nicht arm war, bewunderte er Marfa aufrichtig dafür, wie sie es schaffte, aus dem, was sie bezahlen konnten, so viele Mahlzeiten zuzubereiten. Auch wenn es beinahe jeden Tag nicht viel mehr als die »Kascha« gab, einen grobkörnigen Brei, musste Johannes niemals hungern. Besteuert wurde beinahe alles: Die Imker zahlten für die Gewinnung von Honig, Bauern für den Verkauf ihrer Gurken, sogar die Bestattung in einem Eichensarg kostete eine Sondersteuer. Trotz dieser Misslichkeiten ging das Leben in der gerade entstehenden Stadt, die an vielen Orten noch an eine schlammige, von Mücken verseuchte Barackensiedlung erinnerte, weiter.
    Manchmal, wenn der Wind von der See kam, glaubte Johannes nachts Geschützfeuer zu hören. Die Newamündung war immer noch Kriegsgebiet. Vor wenigen Jahren hatte etwa acht Meilen weiter noch eine schwedische Festung gestanden, die Zar Peter erobert hatte. Seit Jahren führten Schweden unter König Karl und das Russische Zarenreich den Nordischen Krieg, der immer wieder neue Kriegsgefangene als Arbeitskräfte in das Newadelta spülte. Gesichert war die zukünftige Festungsstadt noch nicht, und die Angst davor, dass die Schweden das Newadelta angreifen könnten, war allgegenwärtig. Zwar gewährte die Festung Kronstadt, die vor der Newamündung auf der großen Insel Kotlin lag, zusätzlichen Schutz, aber in bangen Nächten fühlte Johannes sich so, als sei er mitten in der Hölle gelandet.
    Nun verfolgte ihn auch noch die Tote in seine unruhigen Träume. Onkel Michael und Marfa verloren kein Wort mehr über sie, stattdessen betraute Michael seinen Neffen zum ersten Mal mit dem Aufbau eines Gerüsts im zukünftigen Palastviertel, wo die Sommerresidenz entstehen sollte.
    Wie immer, wenn Johannes morgens am Newaufer entlangging, ließ er auch
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