Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kurze Sommer der Anarchie

Der kurze Sommer der Anarchie

Titel: Der kurze Sommer der Anarchie
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
Geldwirtschaft.
In andern Regionen aber, vor allem an der Levanteküste und in Andalusien, brach sich seit 1836 die neureiche Grundbesitzer-Bourgeoisie mit Gewalt Bahn. Nichts anderes bedeutet in Spanien das Wort Liberalismus als die Zerschlagung des alten Gemeindelandes, seinen »freien« Verkauf, das Bauernlegen und die Konstitution der Latifundienwirtschaft. Die Einführung des parlamentarischen Regimes im Jahre 1843 besiegelt die politische Herrschaft der neuen Gutsbesitzer, die selbstverständlich in der Stadt wohnen, ihre Latifundien wie ferne Kolonien betrachten und sie entweder durch Verwalter oder durch Pächter bewirtschaften lassen.
Auf diese Weise ist ein riesiges Landproletariat entstanden. Dreiviertel aller Einwohner Andalusiens sind bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges braceros geblieben, Taglöhner, die ihre Arbeitskraft täglich für einen Hungerlohn versteigern. Der Zwölfstundentag ist die Regel während der Erntezeit.
Die Hälfte des Jahres herrscht eine fast totale Arbeitslosigkeit. Endemische Armut, Unterernährung und Landflucht sind die Folge.
Die Staatsgewalt tritt auf dem Dorf hauptsächlich als Besatzungsmacht in Erscheinung. Ein Jahr, nachdem sie die Regierungsgeschäfte in die Hand genommen hat, schafft die neue politische Klasse der Gutsbesitzer sich eine eigene Okkupationsarmee, die Guardia Civil, eine kasernierte Gendarmerie, angeblich, um die primitivste Form der Notwehr auf dem Lande, das Banditentum, zu liquidieren, in Wahrheit aber, um das Landproletariat in Schach zu halten, das zu neuen Kampfformen greift. Die Guardia besteht aus sorgfältig ausgewählten Leuten, die stets weit entfernt von ihrer Heimat eingesetzt werden. Es ist dieser Truppe verboten, Einheimische zu heiraten oder mit ihnen zu fraternisieren.
Die Gendarmen dürfen ihre Unterkunft nie unbewaffnet oder allein verlassen; heute noch nennt man sie auf dem Land la pareja, weil sie immer paarweise patrouillieren. Der offene Klassenhaß in den andalusischen Dörfern äußerte sich bis in die dreißiger Jahre in einem permanenten Kleinkrieg, einer primitiven Landguerilla, die sich immer wieder zu plötzlichen, spontanen Bauernrevolten steigerte. Diese Aufstände entfesselten eine elementare Massengewalt und wurden mit beispielloser Todesverachtung ausgefochten. Sie nahmen immer denselben, stereotypen Verlauf: Die Landarbeiter machten die Guardia Civil nieder, nahmen Pfarrer und Beamte gefangen, zündeten die Kirche an, verbrannten Grundbücher und Pachtverträge, schafften das Geld ab, sagten sich vom Staat los, erklärten sich zu unabhängigen Kommunen und beschlossen, das Land gemeinsam zu bewirtschaften. Es ist verblüffend zu sehen, wie diese meist analphabetischen Bauern, natürlich ohne es zu wissen, genau den Anweisungen Bakunins folgten. Da ihre Revolten rein lokal und ohne Koordination geführt wurden, dauerte es meist nur wenige Tage, bis sie von den Truppen der Regierung blutig niedergeschlagen wurden. Hier, in den Dörfern Andalusiens, hat der spanische Anarchismus die erste seiner beiden Wurzeln geschlagen. Er gab der spontanen Bewegung des Landproletariats fast mit einem Schlag eine ideologische Basis und eine feste organisatorische Struktur, und er nährte in den Dörfern die naive, aber unerschütterliche Erwartung der baldigen und totalen Revolution. Um die Jahrhundertwende konnte man überall im Süden Spaniens die »Apostel der Idee« antreffen, die zu Fuß, auf Eselsrücken und Planwagen das Land durchstreiften, ohne einen Pfennig in der Tasche. Die Arbeiter nahmen sie auf und gaben ihnen zu essen. (Seit ihren Anfängen, und das gilt bis auf den heutigen Tag, ist die anarchistische Bewegung in Spanien nie von außen unterstützt oder finanziert worden.) Auf diese Weise kam ein massenhafter Lernprozeß in Gang. Überall traf man nun lesende Landarbeiter und Bauern an, und unter den Analphabeten gab es viele, die ganze Artikel aus den Zeitungen und Broschüren der Bewegung auswendig lernten. In jedem Dorf gab es wenigstens einen »Erleuchteten«, einen »bewußten Arbeiter«, der daran zu erkennen war, daß er weder rauchte noch spielte, noch trank, daß er sich zum Atheismus bekannte, daß er mit seiner Frau, der er die Treue hielt, nicht verheiratet war, daß er seine Kinder nicht taufen ließ, daß er viel las und alles, was er wußte, weiterzugeben suchte.
Den ökonomischen Gegenpol zu den verarmten Dürrezonen des südlichen und westlichen Spanien bildet Katalonien, von jeher die reichste und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher