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Der kurze Sommer der Anarchie

Der kurze Sommer der Anarchie

Titel: Der kurze Sommer der Anarchie
Autoren: Unbekannter Autor
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spanische Arbeiterklasse hat sich nie wie die deutsche oder englische durch ihren Respekt vor dem Privateigentum ausgezeichnet, und sie hat, da sie mit Waffengewalt unterdrückt wurde, den bewaffneten Widerstand von jeher für ein normales Mittel ihrer Selbstbehauptung gehalten. Die politische Zweideutigkeit der illegalen Gruppen hat ganz andere Gründe. Sie hängt zum einen mit einem sozialen Faktor zusammen, der in Barcelona immer eine große Rolle gespielt hat: dem Subproletariat. Landflucht und Arbeitslosigkeit, aber auch die internationale Subkultur der Hafenstadt haben zu seiner Entwicklung beigetragen. Die katalanischen Industriearbeiter haben sich von dieser Schicht nicht distanziert; sie fühlten sich mit ihr aus mehr als einem Grund verbunden und solidarisch. Auch hierin unterscheiden sie sich von den Facharbeitern Westeuropas, die sich in ihrem Bewußtsein nach unten ebenso scharf wie nach oben abgrenzen. Natürlich hat die Polizei alles getan, um den latenten Klassenwiderspruch zwischen Industriearbeitern und Subproletariat politisch auszunutzen. Besonders zu Anfang des Jahrhunderts ist es ihr gelungen, die anarchistische Bewegung mit Spitzeln und Provokateuren zu durchsetzen. Dieses Spiel ist aus der Geschichte der Sozialrevolutionäre und der Bolschewiki in Rußland bekannt. Ebenso wie die Ochrana hat auch die spanische Polizei die revolutionären Gruppen effektiv unterstützt. Von den zweitausend Bomben, die 1908-1909 in Barcelona vor den Fabriktoren und den Villen katalanischer Unternehmer explodiert sind, geht ein Löwenanteil auf das Konto der Polizei, die damit auf Anweisung der Madrider Zentralregierung gegen die Autonomie-Bestrebungen der Katalanen vorging. Ebenso wie in Rußland zeigte sich jedoch auch in Spanien, daß die Geheimpolizei zu hoch gespielt hatte; statt die Anarchisten politisch zu entwaffnen, führten ihre Provokationen nur zum Anwachsen der CNT und der FAI.
Es ist nicht leicht, die Vorzüge der anarchistischen Organisationsform gegen ihre Nachteile abzuwägen. Unvergleichlich waren ihre Nähe zur Basis, ihr revolutionärer Eifer, ihre militante Solidarität; aber diese Vorzüge wurden durch einen empfindlichen Mangel an Effizienz, Koordination und zentraler Planung erkauft. So kam es bis kurz vor dem Bürgerkrieg immer wieder zu spontanen, isolierten Aufstandsversuchen und Revolten, die allesamt niedergeschlagen worden sind: »Muster davon«, wie Engels schon 1873 sagte, »wie man eine Revolution nicht machen muß.«
Eine Erklärung dafür, daß solche elementaren und gewaltsamen Versuche, der Unterdrückung hier und jetzt ein Ende zu machen, über ein Jahrhundert lang mit größter Hartnäckigkeit immer wieder unternommen worden sind, ist von bürgerlichen und von marxistischen Historikern immer wieder vorgebracht worden. Ihr zufolge wäre der spanische Anarchismus im Grunde eine religiöse Erscheinung. Seine Anhänger stellen sich den Tag der Revolution als ein Jüngstes Gericht vor, dem das Millennium, das Tausendjährige Reich der göttlichen Gerechtigkeit, auf dem Fuße folgt. Messianische Züge sind, dieser Hypothese zufolge, auch der Fanatismus und die Opferbereitschaft der spanischen Anarchisten. Daß sich besonders die Bewegung auf den Dörfern von quasi religiösen Vorstellungen und Erwartungen genährt hat, ist in der Tat unbestreitbar. Aber das Verfahren, sie auf religiöse Formen zu reduzieren, greift wie alle Säkularisierungsthesen zu kurz. Es unterschlägt, nach Art der »Geistesgeschichte«, den politischen Inhalt dieses Kampfes. Die spanischen Arbeiter haben die Verheißungen der Religion bewußt und resolut auf die Füße gestellt. Wenigstens die materialistischen Historiker sollten es dabei lassen.
Wesentlich mehr Interesse verdient eine andere These, die vor allem von Gerald Brenan und Franz Borkenau vertreten worden ist. Danach drückt der spanische Anarchismus einen tiefsitzenden Widerstand gegen die kapitalistische Entwicklung aus, einen Widerstand, der sich gegen den materiellen Fortschritt, so wie er in den europäischen Industrieländern verstanden wird, überhaupt richtet, und damit auch gegen das marxistische Schema der geschichtlichen Entwicklung. Während in diesem Schema die Bourgeoisie als eine zeitweilig revolutionäre Kraft erscheint, die kapitalistische Entfaltung der Produktivkräfte als notwendige Phase, Disziplinierung und Akkumulation als unvermeidliche Imperative der Industrialisierung, lehnen die anarchistischen Arbeiter und Bauern
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