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Der kurze Sommer der Anarchie

Der kurze Sommer der Anarchie

Titel: Der kurze Sommer der Anarchie
Autoren: Unbekannter Autor
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ein paar Brocken verstanden, oder italienisch, wobei wir uns, so gut es ging, an die Ähnlichkeiten halten mußten, die diese Sprache mit unserer eigenen hat. Dennoch leuchteten uns seine Gedanken derart ein, daß wir, als er geendet hatte, von einer grenzenlosen Begeisterung ergriffen waren.« Noch zweiunddreißig Jahre nach dem Besuch des Italieners kann der Berichterstatter Anselmo Lorenzo, einer der ersten spanischen Anarchisten, Fanelli, den »Apostel«, wörtlich zitieren, und er erinnert sich des Schauders, der ihm über den Rücken lief, als dieser ausrief: »Cosa orribile! spaventosa!« »Drei oder vier Abende lang trug Fanelli uns seine Propaganda vor. Er sprach auf Spaziergängen und in Cafes mit uns. Auch überließ er uns die Statuten der Internationale, das Programm der Allianz demokratischer Sozialisten und ein paar Nummern der Glocke mit Artikeln und Reden von Bakunin. Bevor er von uns Abschied nahm, bat er uns noch darum, ein Gruppenfoto zu machen, auf dem er in unserer Mitte zu sehen ist.« Keiner seiner Zuhörer hatte je zuvor von der Organisation gehört, als deren Emissär Fanelli nach Spanien gereist war: der Internationalen Arbeiter-Assoziation. Fanelli war ein Anhänger Bakunins, er gehörte dem »antiautoritären« Flügel der Ersten Internationale an, und die Botschaft, die er nach Spanien brachte, war die des Anarchismus.
Der Erfolg dieser revolutionären Lehre war augenblicklich und sensationell; sie breitete sich unter den Land- und Industriearbeitern des westlichen und südlichen Spanien wie ein Steppenbrand aus. Schon auf ihrem ersten Kongreß, 1870, entschied sich die spanische Arbeiterbewegung für Bakunin und gegen Marx, und zwei Jahre später konnte die Föderation der Anarchisten beim Treffen von Cordoba auf 45 000 aktive Mitglieder zählen. Die Bauernaufstände von 1873, die sich über ganz Andalusien erstreckten, standen bereits eindeutig unter anarchistischer Führung. Spanien ist das einzige Land der Welt, in dem die revolutionären Theorien Bakunins zur materiellen Gewalt geworden sind. Bis 1936 haben die Anarchisten ihre beherrschende Rolle in der spanischen Arbeiterbewegung behauptet; sie waren nicht nur zahlenmäßig in der Mehrheit, sie bildeten auch ihre militanteste Fraktion.
Dieser historisch einzigartige Sachverhalt hat eine ganze Reihe von Erklärungsversuchen auf den Plan gerufen. Keiner von ihnen leistet, für sich genommen, was er verspricht, und eine kohärente Ableitung nach den Spielregeln der politischen Ökonomie ist bisher nicht gelungen. Immerhin lassen sich die Bedingungen angeben, unter denen der spanische Anarchismus gediehen ist; sie mögen eine Entwicklung, die der rein ökonomischen Erklärung bisher getrotzt hat, immerhin verständlich machen.
Von wenigen regionalen Ausnahmen abgesehen, war Spanien bis zum Ersten Weltkrieg ein reines Agrarland. Die Klassengegensätze in dieser Gesellschaft waren so extrem und unverhüllt, daß man von zwei Nationen sprechen kann, die durch einen Abgrund voneinander getrennt waren. Die politische Klasse, die den Staatsapparat beherrschte und mit Armee und Kirche eng verbündet war, bestand in der Hauptsache aus Großgrundbesitzern. Sie war durchaus unproduktiv, korrupt und unfähig, die zeitweilig progressive Rolle zu übernehmen, die in andern Ländern Westeuropas der Bourgeoisie zugefallen war. Ihr parasitenhaftes Dasein erschöpfte sich im Verzehr von Renten; an der Entwicklung der Produktivkräfte durch kapitalistische Expansion war sie nicht interessiert. Entsprechend schwach war das Kleinbürgertum entwickelt. Abgesehen von armen Handwerkern und kleinen Händlern bestand es aus den Lakaien des »Staatsscheißkerls«, wie Marx es genannt hat, einer aufgeschwemmten, schlecht bezahlten Bürokratie, die, soweit sie nicht überhaupt funktionslos war, eher repressiven als administrativen Zwecken diente.
Das wirkliche Spanien, die riesige Mehrzahl des arbeitenden Volkes, lebte auf dem Land, und dort wurden, bis über die Jahrhundertwende hinaus, auch die wesentlichen Klassenkämpfe auf spanischem Boden ausgetragen. Ihr Verlauf hängt eng mit der Agrarstruktur zusammen. Wo sich, wie in den nördlichen Provinzen, mittelalterliche Besitz- und Produktionsverhältnisse behaupten konnten, ganze Dörfer von Klein- und Mittelbauern ihr Gemeindeland an Wald und Weide behielten, der Boden fruchtbar und ausreichend bewässert war, hielten sich in stolzer Isolierung altertümliche Gesellschaftsformen, fast außerhalb der
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