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Der Küss des schwarzen Falken

Der Küss des schwarzen Falken

Titel: Der Küss des schwarzen Falken
Autoren: Barbara McCauley
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Da war der Untergrund zu unsicher, um darauf zu bauen.
    Rand nahm Gas weg und betrachtete wieder die Landschaft. Es war so viel Zeit vergangen seitdem, und er wusste nicht, ob er sich noch zurechtfinden würde.
    ‘Nach der Biegung, wo die Straße wieder breiter wird …’ Es war die Stimme seines Vaters, die er im Geiste hörte. Aber da war auch die Erinnerung an das Prasseln des Regens auf dem Autodach und an die Donner des Gewitters.
    ‘Ihr braucht keine Angst zu haben, wir sind bald da …’
    Dort war es. Das war die Biegung, die sein Vater gemeint hatte, hinter der sie hatten anhalten wollen, um das Unwetter abzuwarten, die Kurve, die er dann nicht mehr geschafft hatte.
    Mit klopfendem Herzen fuhr Rand rechts auf den Seitenstreifen und stellte den Motor ab. Seine Hände waren feucht, als er ausstieg und an den Abhang trat, um hinunterzusehen. Das musste die Stelle sein, wo sie abgestürzt waren. Hier hatte sein Leben eine Wende genommen. Er schloss die Augen. Wie in einem Film lief alles noch einmal vor ihm ab: der unvermutete Blitzstrahl dicht vor ihnen, das Schleudern des Wagens, das Krachen und Knirschen des Metalls und dann diese fürchterliche Stille.
    Vorsichtig öffnete Rand die Augen wieder und sah sich um. Die Augustsonne brannte vom Himmel, ein einsamer Falke kreiste über seinem Kopf. Leichte, weiße Wölkchen schwebten über dem Horizont. Und wieder diese Stille. Absolute Stille.
    Er drehte sich zur Seite und begann dann, langsam und vorsichtig den Abhang hinunterzuklettern. Er musste seine Stiefel fest in den Untergrund stemmen, um nicht abzurutschen. Immer wieder lösten sich Steine, Geröll und Erde und prasselten und rutschten in einer Staubwolke vor ihm talwärts. Als er unten angekommen war, blickte er sich erneut um. Dann holte er aus der Gesäßtasche seiner Jeans das Foto, das Lucas ihm gegeben hatte. Das Foto, das er jetzt hier in Händen hielt, war im Grunde der einzige sichtbare Beweis der Existenz seiner Familie.
    Er konnte sich an den Tag erinnern, an dem eine Krankenschwester die Aufnahme gemacht hatte. Sein Vater, Seth und er hatten in einem Wartezimmer gewartet. Dort hatte es zwar einen Fernseher und Spiele gegeben, aber er und sein Bruder hatten sich trotzdem gelangweilt und nörgelnd immer wieder gefragt, ob sich das Baby nicht ein bisschen beeilen könne, auf die Welt zu kommen. Je länger Rand daran dachte, desto lebhafter wurde die Erinnerung. Alles kehrte zurück: der typische Krankenhausgeruch, das Quietschen der Gummisohlen, wenn die Krankenschwestern über den Linoleumboden gingen.
    Endlich war es so weit gewesen, dass sie zu ihrer Mutter konnten, aber sie hatten kaum länger bleiben dürfen, als es brauchte, um das Foto zu machen. Seine Mutter hatte ihn noch auf die Wange geküsst und gesagt: “Rand, du bist ja schon groß. Du musst jetzt auch mit auf Lizzie aufpassen. Versprichst du mir das?” Und er hatte es feierlich versprochen.
    Ob es nun allein seine Schuld war oder nicht, gehalten hatte er das Versprechen nicht. Das Foto in seiner Hand zitterte leicht. Immerhin hatte er jetzt so etwas wie eine zweite Chance, und die würde er nutzen.
    Die Adresse von Seth wusste er inzwischen. Henry Barnes hatte sie ihm mitgeteilt. Der Anwalt hatte ihn gestern auch gefragt, ob er einen Privatdetektiv beauftragen wolle, den Aufenthalt von Lizzie herauszufinden. Er hatte mit der Antwort gezögert. Immerhin war es möglich, dass seine kleine Schwester glücklich und unbeschwert irgendwo mit ihrer Familie lebte, und niemand wusste, in welche Konflikte man sie vielleicht stürzte, wenn plötzlich zwei Brüder in ihrem Leben erschienen und mit ihnen ihre ganze tragische Vorgeschichte wieder aufgerollt werden würde.
    Dennoch war die Entscheidung für ihn dann klar gewesen. Lizzie sollte die Möglichkeit gegeben werden, es selbst zu bestimmen. Gelang es, sie zu finden, konnte ein Mittelsmann sie auf die Existenz ihrer Brüder vorbereiten, und es sollte dann ihr überlassen bleiben, ob sie sich wiedersähen oder nicht. Dieselbe Möglichkeit zur Entscheidung sollte auch Seth haben.
    ‘Ihr braucht keine Angst zu haben …’ Das waren die Worte seiner Mutter gewesen.
    Lächelnd steckte Rand das Foto in die Tasche und beeilte sich, wieder hinauf zu seinem Wagen zu kommen.
    In ihrem langen schwarzen Abendkleid mit dem tiefen Rückenausschnitt, den Spaghettiträgern und dem kühnen Seitenschlitz sah Grace hinreißend aus. Sie stand bei der offenen Flügeltür auf der Terrasse der Villa
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