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Der Küss des schwarzen Falken

Der Küss des schwarzen Falken

Titel: Der Küss des schwarzen Falken
Autoren: Barbara McCauley
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waren noch am Leben. Seth musste jetzt dreißig sein, Lizzie fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig.
    Rand hatte sich all die Jahre bemüht, die Erinnerung an seine Geschwister aus seinem Gedächtnis zu löschen, genauso wie die an den Unfall. Aber von Zeit zu Zeit wurden sie immer wieder lebendig. Er war machtlos dagegen, und auch der Whiskey half nicht, die einstürmenden Bilder zu verdrängen: das grelle Scheinwerferlicht, das Quietschen der Reifen, das Bersten von Glas und Metall, die Schreie seiner Mutter und Lizzies Weinen.
    Und dann die plötzliche Stille. Eine Stille, die ihn seitdem immer wieder verfolgte. Oft wachte er nachts schweißgebadet auf, das Bett zerwühlt, mit jagendem Puls und zitternden Händen. Selbst jetzt, da er an Seth und Lizzie dachte, schlug sein Herz wie wild.
    “Rand?”
    Aus seinen Gedanken aufgeschreckt, drehte er sich mit einem Ruck herum, als er hinter sich Mary Sloans sanfte Stimme hörte. Mit ihren einundsechzig Jahren war sie noch immer eine attraktive Frau. Silberne Fäden durchzogen ihr rabenschwarzes Haar. Ihre Haut war fest und von der Sonne gebräunt. Feine Falten zeichneten ihr Gesicht mit den strahlend blauen Augen. Doch sie sah müde aus. Das Leben auf der Ranch war hart, die Arbeitstage waren lang und brachten wenig ein. Und in den neunundzwanzig Jahren ihrer Ehe hatte es für Mary nichts anderes gegeben als die Ranch.
    Mary und Edward Sloan hatten Rand Blackhawk kurz nach dem Unfall adoptiert. Mary war immer gut zu ihm gewesen und liebte ihn wie einen eigenen Sohn. Von Edward konnte man das nicht behaupten. Aber das spielte nun keine Rolle mehr.
    “Was ist mit dir? Alles in Ordnung?”, fragte sie und trat einen Schritt näher.
    Es lag ihm schon auf der Zunge zu antworten: Ja, alles in Ordnung. In der Sloan-Familie war immer ‘alles in Ordnung’. Aber Rand entschloss sich, die Wahrheit zu sagen: “Verdammt, ich weiß es doch auch nicht, Mom.”
    Mary wusste von dem Brief, den Rand bekommen hatte. Sie war feinfühlig genug, sich vorstellen zu können, was er für ihn bedeutete. “Es ist Viertel nach eins”, sagte sie nach einer Pause. “Kommst du?”
    Er spießte mit der Heugabel einen halben Ballen Stroh auf und warf ihn in die Pferdebox. “Geh schon vor. Ich bin hier gleich fertig.”
    “Rand, ich …” Mary verstummte. Sie hätte ihm gern Mut zugesprochen, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Unschlüssig stand sie da, dann wandte sie sich zum Gehen.
    In diesem Augenblick hörte man draußen einen Wagen vorfahren.
    Mary drehte den Kopf und sah Rand fragend an. “Wer kann das denn sein?”
    “Keine Ahnung. Erwartest du Besuch?”
    “Nein, ich bestimmt nicht.” Mary sah jetzt nicht nur müde, sie sah auch sehr traurig aus. “Ich schau mal nach, wer es ist. Vielleicht will ja jemand zu Matthew oder zu Sam.”
    Sie wussten beide, dass das sehr unwahrscheinlich war. Matthew und Sam, Rands jüngere Stiefbrüder, die leiblichen Kinder von Edward und Mary, waren schon vor Jahren weggegangen und genauso wie Rand erst vor ein paar Tagen hierher zurückgekommen. Es war kaum anzunehmen, dass sich das schon herumgesprochen hatte.
    Noch einmal sah Mary ihn ernst an und sagte: “Wir reden später miteinander, wenn du willst, ja?”
    Rand nickte. Er wusste genau, dass sie auf den Brief anspielte. Mary straffte die Schultern und ging aus der Scheune. Rand blickte ihr hinterher. Sicher würden sie noch darüber reden. Er hatte nur keine Ahnung, was das bringen sollte.
    Grace Sullivan parkte den Jeep vor dem zweigeschossigen Ranchhaus und stellte den Motor ab. Sie schob ihre Sonnenbrille hoch und musterte den in ein Holzbrett geschnitzten Namen neben dem Eingang. Endlich, dachte sie und atmete auf. In ganz Texas hatte sie nach dem sagenhaften Rand Sloan gesucht. Wenn er hier nicht wohnte, konnte ihr vielleicht wenigstens endlich jemand sagen, wo er zu finden war. Vorausgesetzt, dass hier jemand zu finden war.
    Sie stieg aus dem Wagen. Unbarmherzig brannte die Augustsonne. Grace schob die Sonnenbrille wieder auf die Nase und betrachtete das Haus. Die ehemals weiße Farbe blätterte an etlichen Stellen ab. Das Dach war schadhaft. Die Beete vor der Veranda waren von Unkraut überwuchert, und die Koppel hinter dem Haus war leer. Eine Hollywoodschaukel mit ausgeblichenen blauen Kissen bewegte sich auf der Veranda leicht im Wind und quietschte dabei rhythmisch.
    Grace blickte die Straße zurück, auf der sie gekommen war. Die Staubwolke, die die breiten Reifen des Jeeps
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