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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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Orgeln und sechshundert Stimmen die Nationalhymne schmettern, doch der Klang verliert sich beinahe unter der Weite des Glasdachs.
    Der Reihe nach schreiten die Königin und ihr Gefolge durch ein schmiedeeisernes Tor, das zwei Beefeater bewachen, und betreten den zentralen Bereich. Nichts kündet mehr von den Verwüstungen der vorigen Nacht, und die Luft riecht nach Zedernholz und frischer Farbe, nach Blumen und den parfümierten Wasserspielen, die auf ihren Einsatz warten. Das Mittagslicht fällt grünlich durch die Palmwedel und die Ulmen, in denen die Spatzen aufgeregt flattern. Die Königin lächelt, aber der Duke of Wellington wünscht sich nicht zum ersten Mal, sie hätte seinen Rat befolgt und ein paar Sperber im Palast ausgesetzt.
    Unter dem Transept, Purpur und Indigo, ist nun ein hoher Baldachin über einem Podium mit einem Thron aufgespannt. Die Königin entdeckt das preußische Kronprinzenpaar samt Sohn – eine gute Partie für ihre Vicky – und den Prinzen der Niederlande, und einen Moment hält sie Ausschau nach ihrem Onkel Leopold, doch der König von Belgien ist nicht zu entdecken.
    Stille kehrt ein. Sechzigtausend Augen richten sich erwartungsvoll auf ihre Herrscherin und die winzigen Menschen unter dem Baldachin. Albert von Sachsen-Coburg und Gotha tritt vor und hält eine Rede im Namen der Kommission. Er dankt zunächst dem Architekten, den fleißigen Arbeitern und der Kommission, die noch wenige Tage zuvor einen tragischen Verlust in ihren Reihen zu bedauern hatte. Bei diesen Worten schluchzt Lady Sedgwick, ganz in Schwarz gekleidet, leise auf und greift nach der Hand des Mannes neben ihr. Diese Hand gehört Lord Bailey, der erst zusammenzuckt und dann seinerseits die Hand Lady Sedgwicks ergreift und tätschelt. Er sieht sich betreten um und entdeckt Isambard Kingdom Brunel in der Menge, sein Blick so eisern wie eine seiner Maschinen, und weiter hinten Rear-Admiral Shiels, aber auch der Admiral begegnet seinem Blick nur kurz und richtet seine Aufmerksamkeit dann wieder auf die Hundertschaften von Soldaten und Polizisten, die meisten davon in Zivil, die die Sicherheit der Königin gewährleisten sollen.
    Jetzt spricht Albert von der Ausstellung, und der ganze Saal atmet Geschichte. Wann zuvor waren je die Völker der Welt in Frieden zusammengekommen, um ihre Einigkeit und die Errungenschaften ihres Verstands zu feiern? Die Reporter machen sich Notizen und überschlagen sich in ihren Vergleichen: allein, ob zum Anbeginn der Menschheit im Ersten Garten, dem Turmbau zu Babel oder doch gleich zur letzten Zusammenkunft, der Apokalypse, darüber herrscht Uneinigkeit.
    Victoria dankt ihrem Gatten. Der Erzbischof von Canterbury spricht ein kurzes Gebet. Orgeln und Chor intonieren das Halleluja aus Händels Messias, und alle, die bis dahin noch nicht ergriffen waren, wischen sich nun die Augen.
    Man macht sich bereit zur feierlichen Begehung. Einen kurzen Moment kommt Verwirrung auf, als ein Chinese in der bunten Seidenrobe eines Mandarins nach vorne stolpert und sich vor der Königin verbeugt. Hat das Reich der Mitte nicht abgelehnt, sich an der Weltausstellung zu beteiligen? Was, wenn es seine Meinung geändert und doch noch einen Repräsentanten entsandt hat? Zwar ist der Mann niemand anderes als der chinesische Dschunkenkapitän, aber keiner kennt ihn, und jeder fürchtet, das Protokoll zu verletzen; man weiß ja, wie empfindlich die Chinesen sind. Die Königin weist ihm daher nach kurzer Beratung einen Platz zwischen dem Erzbischof und dem Duke of Wellington zu, was den Fremden, der kein Wort mit irgendjemandem wechselt, sehr glücklich zu machen scheint, und das wiederum macht die Königin glücklich, denn sie will an Alberts großem Tag nur glückliche Gesichter um sich sehen.
    Erneut bricht tosender Jubel aus, als sich die Prozession, angeführt von mehreren Herolden, in Bewegung setzt: zuvörderst Joseph Paxton und seine Geschäftspartner; dann die Kommissare und Botschafter, gefolgt von den Vertretern des Kabinetts und der Kirche; dann die königliche Familie und ihre Ehrengäste nebst Hofstaat. Nie zuvor hat man Monarchen sich solcherart unter das Volk mischen sehen, und die Herzen der Menschen entflammen in Stolz auf ihre mutige Königin. Zu Militärmusik geht es erst durch das Erd- und dann das Obergeschoss. Paxton versteht es, den in Mitleidenschaft gezogenen Westteil des Palasts geschickt zu umgehen, dennoch runzelt Victoria einen Moment lang die Stirn, als sie den von schwarzen Tüchern
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