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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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weinten.
    Ich habe das Gefühl, als hätte ich zwei Leben gelebt: ein männliches und ein weibliches.«
    »Nach dem Krieg ... Ein Menschenleben war nichts wert ... Ich saß im Bus, kam von der Arbeit, plötzlich Schreie: ›Haltet den Dieb! Haltet den Dieb! Meine Handtasche ...‹ Der Bus hielt ... Sofort Gedränge. Ein junger Offizier steigt mit einem Jungen aus, legt sich dessen Arm übers Knie und – knack! – bricht ihn in der Mitte durch. Und springt wieder in den Bus ... Und wir fahren weiter ... Niemand nahm den Jungen in Schutz, rief einen Milizionär. Oder einen Arzt. Der Offizier hatte die ganze Brust voller Kampforden ... An der Haltestelle, als er sah, dass ich aussteigen wollte, sprang er raus und reichte mir die Hand: ›Bitte, junge Frau ...‹ Ganz galant ...
    Das ist mir erst jetzt wieder eingefallen ... Damals waren wir alle noch Kriegsmenschen, lebten nach den Gesetzen der Kriegszeit. Sind die etwa menschlich?«
    »Die Sowjetarmee kam zurück ...
    Wir durften Gräber ausbuddeln, suchen, wo unsere Angehörigen erschossen worden waren. Nach alter Sitte muss man in der Nähe des Todes Weiß tragen – weiße Tücher, ein weißes Hemd. Daran werde ich mich bis zu meinem letzten Augenblick erinnern! Die Menschen hatten weiße Tücher in der Hand ... Trugen weiße Sachen ... Wo hatten sie die her?
    Wir buddelten ... Wer etwas gefunden und erkannt hatte, nahm es mit. Der eine eine Hand in einer Schubkarre, der nächste einen Kopf ... Der Mensch liegt nicht lange im Ganzen in der Erde, sie waren dort alle durcheinandergeraten. Mit Sand und Lehm vermischt.
    Meine Schwester fand ich nicht, aber ein Stück von einem Kleid, das kam mir vor, als wäre es ihrs, das kam mir bekannt vor ... Großvater sagte, das nehmen wir mit, dann können wir wenigstens etwas beerdigen. Dieses Stück Stoff legten wir dann in einen Sarg ...
    Für meinen Vater kam ein Papier: ›Unbekannt verschollen.‹ Andere bekamen Nachricht, wenn jemand gefallen war, meiner Mutter und mir aber machte man im Dorfsowjet Angst: ›Euch steht keine Unterstützung zu. Vielleicht lebt er ja fröhlich bei einer deutschen Frau. Ist ein Volksfeind.‹
    Unter Chruschtschow suchte ich nach meinem Vater. Vierzig Jahre später. Antwort bekam ich unter Gorbatschow: ›In den Listen nicht erfasst ...‹ Aber ein Regimentskamerad meldete sich, und so erfuhr ich, dass mein Vater als Held gefallen war. Bei Mogiljow hat er sich mit einer Handgranate unter einen Panzer geworfen ...
    Schade, dass meine Mutter diese Nachricht nicht mehr erlebt hat. Sie ist mit dem Makel der Frau eines Volksfeindes gestorben. Eines Verräters. Ich bin mit dem Brief an ihr Grab gegangen. Hab ihn ihr vorgelesen ...«
    »Viele von uns dachten ... Wir glaubten, nach dem Krieg würde sich alles ändern, würde die Angst verschwinden. Stalin würde seinem Volk vertrauen. Der Krieg war noch nicht zu Ende, da fuhren die Züge mit den Siegern schon nach Magadan. Züge voller Helden. Verhaftet wurde, wer in Gefangenschaft gewesen war, wer in deutschen Lagern überlebt hatte, wen die Deutschen zur Arbeit nach Deutschland gebracht hatten – alle, die Europa gesehen hatten und erzählen konnten, wie das Volk dort lebte. Ohne Kommunisten. Wie dort die Häuser und Straßen aussahen. Dass es dort keine Kolchose gab ...
    Nach dem Sieg verstummten alle. Alle schwiegen und hatten wieder Angst, wie vor dem Krieg ...«
    »Ich bin Geschichtslehrerin. Seit ich unterrichte, wurde die Geschichte schon drei Mal umgeschrieben. Ich habe nach drei verschiedenen Lehrbüchern unterrichtet.
    Fragen Sie uns, solange wir noch leben. Schreibt nicht später alles um, ohne uns, an unserer Stelle. Fragt uns ...«
    »Wissen Sie, wie schwer es ist, einen Menschen zu töten. Ich war im Untergrund. Nach einem halben Jahr bekam ich den Auftrag, mich als Kellnerin in der Offizierskantine anstellen zu lassen. Ich war jung und schön ... Ich wurde genommen. Ich sollte Gift in den Suppenkessel tun und gleich am selben Tag zu den Partisanen gehen. Doch ich hatte mich bereits an sie gewöhnt, sie waren Feinde, aber wenn du sie jeden Tag siehst und sie zur dir sagen ›Danke schön ... danke schön ...‹. Dann ist das schwer ... Töten ist schlimmer als sterben ...
    Ich habe mein Leben lang Geschichte unterrichtet ... Und ich wusste nie, wie ich davon erzählen sollte. Mit welchen Worten ...«
    ***
    Ich hatte meinen eigenen Krieg ... Ich habe den ganzen Weg mit meinen Heldinnen zusammen zurückgelegt. Genau wie sie glaubte ich
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