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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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lange nicht, dass unser Sieg zwei Gesichter hat – ein schönes und ein schreckliches, voller Narben – unerträglich. »Wenn man einen Menschen im Nahkampf tötet, schaut man ihm in die Augen. Das ist etwas anderes als Bomben werfen oder aus dem Schützengraben schießen.« Sie erzählten mir davon. Wenn man einem Menschen zuhört, wie er tötete und fast starb, dann ist es genauso – man schaut ihm in die Augen ...

»Ich will mich nicht erinnern ...«
    Ein altes zweistöckiges Haus am Stadtrand von Minsk, eines von denen, die auf die Schnelle und, wie man damals glaubte, nur als Provisorium gleich nach dem Krieg entstanden, inzwischen seit langem von anheimelnden Jasminbüschen umwuchert. Dort begann die Suche, die sieben Jahre dauern sollte, sieben erstaunliche, qualvolle Jahre, in denen ich die Welt des Krieges kennenlernen sollte, eine Welt, die uns bislang verschlossen war. Ich sollte mich in unsere Vergangenheit verlieben und sie zugleich hassen lernen, sollte mehr als einmal in Abgründe stürzen und in den Himmel emporsteigen. Ich sollte an den Menschen glauben lernen und staunen über seine unendlichen Kräfte in beide Richtungen – zum Guten und zum Bösen. Ich sollte Schmerz empfinden, Hass und Versuchung. Zärtlichkeit und Unverständnis. Ich sollte versuchen, den Unterschied zwischen Tod und Töten zu ergründen und die Grenze zwischen Menschlichem und Unmenschlichem. Und erfahren, dass es im Krieg außer dem Tod noch eine Menge anderer Dinge gibt, nämlich alles, was auch das normale Leben ausmacht. Ich sollte mit der Unendlichkeit von Bedeutungen konfrontiert werden und mit der Zahllosigkeit menschlicher Wahrheiten und Geheimnisse. Ich sollte über Dinge nachdenken, von deren Existenz ich zuvor nichts geahnt hatte. Zum Beispiel darüber, warum wir uns nicht über das Böse wundern, warum es in uns kein Erstaunen auslöst. Und: Ist Krieg nicht getötete Zeit? Im Krieg wird die Zeit getötet ...
    Es sollte ein langer Weg werden. Dutzende Reisen durch das ganze Land, Hunderte Kassettenmitschnitte, Tausende Tonbandmeter. Bei fünfhundert Begegnungen habe ich aufgehört zu zählen, die Gesichter verschwammen in der Erinnerung, geblieben sind nur die Stimmen. In meinem Gedächtnis klingt ein Chor. Nein, ich will nicht lügen, ich gestehe: Ich habe nicht immer daran geglaubt, dass ich diesen Weg bewältigen würde. Manchmal wollte ich aufhören. Umkehren. Wieder die werden, die ich früher gewesen war, die noch nichts wusste und nichts gehört hatte. Doch das konnte ich nicht mehr. Ich war eine Gefangene des Bösen geworden, ich wollte es entschlüsseln. Mir scheint, ich habe zwar einiges Wissen gewonnen, doch auch die Fragen sind noch mehr geworden. Und die Antworten noch weniger.
    Aber damals, ganz am Anfang, ahnte ich das alles nicht.
    In dieses Haus hatte mich eine kleine Zeitungsnotiz geführt: Im Minsker Werk für Straßenbaumaschinen war die Oberbuchhalterin Maria Iwanowna Morosowa in Pension verabschiedet worden. Im Krieg, hieß es in der Zeitung, sei sie Scharfschützin gewesen, habe elf Auszeichnungen bekommen, auf ihr Scharfschützenkonto gingen fünfundsiebzig Tote. Ich konnte den militärischen Beruf dieser Frau im Kopf nur schwer mit ihrem Friedensberuf zusammenbringen. Und mit dem alltäglichen Zeitungsfoto, das so gar nichts Außergewöhnliches zeigte.
    Die kleine Frau mit dem rührenden mädchenhaften Haarkranz aus einem langen geflochtenen Zopf hat keinerlei Ähnlichkeit mit der auf dem Zeitungsfoto. Sie sitzt in einem großen Sessel, die Hände vorm Gesicht.
    »Nein, nein, das mache ich nicht. Ich kann nicht. Ich kann noch heute keine Kriegsfilme sehen. Dorthin zurückkehren. Auch mit dir hab ich Mitleid. Ich rede mit dir wie mit einer Tochter ... Du bist noch so jung und fragst nach solchen Dingen. Und ich? Ich war damals noch ein halbes Kind. Ich habe geträumt und bin aufgewachsen, bin aufgewachsen und habe geträumt ...«
    Dann fragt sie:
    »Aber warum kommst du zu mir? Du solltest dich lieber mit meinem Mann treffen, der könnte dir alles erzählen. Wie die Kommandeure hießen, die Generäle, die Nummern der Truppenteile – das weiß er alles noch. Ich nicht. Ich erinnere mich nur an das, was mit mir war. Ständig umgeben von vielen Menschen, aber doch allein, denn angesichts des Todes ist der Mensch immer einsam.«
    Sie bittet mich, das Tonbandgerät wegzunehmen.
    »Ich brauche deine Augen, damit ich erzählen kann, da stört das.«
    Aber nach einigen Minuten hat sie es
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