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Der kranke Gesunde

Der kranke Gesunde

Titel: Der kranke Gesunde
Autoren: Andreas von Pein , Hans Lieb
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mal das Ende des ›Diagnose-Karussells ‹ sein. Das ist für uns aber immer eine riskante Entscheidung. Es ist überhaupt schwierig, hier eine gute Gesamtentscheidung zu treffen, vor allem weil jeder Fachkollege sein Gebiet natürlich etwas überbetont. Manchmal ergeben sich sogar widersprüchliche Aussagen für den Patienten: ZumBeispiel bei der Frage, ob er sich nun körperlich schonen oder belasten, ob er aktiver oder passiver werden soll. Uns Ärzten wird oft im Nachhinein vorgeworfen, wir hätten viel zu viel Diagnostik betrieben. Es gibt aber Gründe, die das verständlich machen und nicht wenige kommen von unseren Patienten selbst. Die meisten wollen ja eine organmedizinische Erklärung und Behandlung, manche verlangen sogar vehement danach. Geben wir ihren Ersuchen nicht nach und verordnen keine weiteren Maßnahmen, sind sie enttäuscht, erklären uns für inkompetent und wenden sich dann anderen Ärzten zu. Oft beginnt dort dann der ganze Kreislauf wieder von vorne.
Ich will auf keinen Fall eine ernstliche Krankheit übersehen!
    Andere Gründe dafür, dass manchmal zu viel an (oft kostspieliger) Diagnostik betrieben wird, liegt an uns Medizinern selbst: Wir lernen in der Ausbildung viel eher, organische Krankheiten zu suchen und zu finden als den Körpern unserer Patienten zu trauen. Eine Art krankheitsorientiertem Misstrauen dem Körper gegenüber ist Teil unseres beruflichen Selbstverständnisses. Wir machen das Medizinstudium ja nicht, um dadurch dem Körper zu vertrauen, dass dieser seine Beschwerden mit der Zeit von alleine beseitigt. Im Gegenteil: Wir sollen doch herausfinden, wo und warum er das nicht kann. Und im Zweifelsfalle ist es ja auch weniger riskant, einen Gesunden krank als einen Kranken gesund zu schreiben! In diesem Zusammenhang befürchte ich mit vielen meiner Kollegen, dass uns Unwissenheit oder Fahrlässigkeit vorgeworfen oder im Extremfall sogar der Prozess gemacht wird, wenn wir eine ernste Krankheit übersehen haben.«
Was nun?
    Patienten wie Martin am Ende einer solchen »Karriere« zu helfen, ist nicht leicht. Zum einen ist es notwendig, das diagnostische Karussell zu stoppen, auch wenn das einige der Betroffenen ängstigt und verunsichert. Das heißt aber nicht, sie damit alleine zu lassen. Im Gegenteil:
    Sie brauchen nun eine andere Art von Hilfe: Eine, die ihre körperlichen Beschwerden ernst nimmt und ihnen hilft, diese auch ohne »organischen Befund « zu verstehen und zu bewältigen. Dazu gehört erst einmal, die bisherigen Befunde und Diagnosen so zu erklären, dass man sie auch verstehen kann. Und dann brauchen Betroffene eine ganz andere Art von »Diagnose« und »Therapie« – eben eine psychosomatische. Was das ist, wird in den nächsten Kapiteln vorgestellt.
    Info
    Martins »Karriere« ist kein Einzelfall
    Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge gelangen solche Patienten erst nach durchschnittlich fünf bis sieben Jahren Erkrankungsdauer zur Diagnose »psychosomatisch« und zu einer Psychotherapie. In dieser Zeit haben sie 70 bis 80 Arztkontakte, oft mit mehreren Krankenhauseinweisungen hinter sich. Es ist auch bekannt, dass wegen psychosomatischer Beschwerden die meisten Beruhigungsmittel verschrieben werden. Es gibt Hinweise, dass fast die Hälfte aller Beschwerden, wegen derer Patienten einen Allgemeinarzt aufsuchen, als »psychosomatische Reaktionen« eingeschätzt werden müssen.
    Typisch für Betroffene ist folgende Kette: Beschwerde – Arztbesuch – Erleichterung – Beschwerde – Arztbesuch – Erleichterung usw. Dieser Ablauf hat notgedrungen eine ängstliche Selbstbeobachtung zur Folge und diese mit ihrer Fixierung auf das Negative fördert am Ende selbst die Entwicklung von Symptomen. Diese führen zu erneuten Arztbesuchen: Ein Teufelskreis, den irgendwann irgendjemand unterbrechen muss. Und das tut oft die neue Diagnose »psychosomatisch«.
    ÜBUNG
    Wie sieht Ihre Situation aus?
    Bevor wir uns mit dem Phänomen »Psychosomatik« beschäftigen, laden wir Sie ein, Ihre eigene Situation zu betrachten. Die folgenden Fragen können Ihnen dabei als Anregung dienen. Haben Sie sich in einigen Passagen aus Martins Schilderungen wiedergefunden? Welche seiner Gedanken und Gefühle kennen Sie von sich selbst? Über welche Art von Behandlung waren Sie enttäuscht? Haben Sie deshalb Hilfe bei Experten außerhalb der Schulmedizin gesucht? Welche Erfahrungen haben Sie mit diesen gemacht? Waren Sie auch bei einem Psychotherapeuten? Waren Sie von diesem enttäuscht?
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