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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm
Autoren: Kerstin Pflieger
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Räume, in deren Wohnstube sich Silas nun wiederfand. Auf dem Herd kochte zäher Haferschleim, ein wahrer Luxus in diesen Zeiten, und ein Wasserkessel steckte in den Kohlen. Um den Tisch herum saß die Familie. Zwei Mädchen, die sich im Sticken übten, und ein Junge, der an einem Holzstück schnitzte.
    Gernot blickte erbost auf den Eindringling. Als er Silas erkannte, wich alles Blut aus seinem Gesicht. »Geht nach draußen«, befahl er den Kindern.
    »Aber Vater!«, begehrte der Knabe auf.
    Ein scharfer Blick brachte ihn zum Verstummen. Der Bursche nahm seine Schwestern bei der Hand – das kleine Mädchen fing dabei an zu weinen – und zog sie hinaus. Als er an Silas vorbei zur Tür hinausging, blickte der Junge Silas finster in die Augen.
    Der hat Mut. Schade, dass er hier verkommt.
    Gernot wartete, bis sich die Tür hinter den Kindern geschlossen hatte. Seine Frau trat an seinen Stuhl heran und umklammerte die Lehne so fest, dass die Knöchel ihrer Hand weiß hervortraten.
    »Was wollt Ihr?«
    »Die Hexe ist tot, und ich verlange meinen Lohn.«
    »Wir waren heute Nachmittag verabredet. Dafür, dass Ihr Euch nicht daran gehalten habt, sollte ich Euch keine weitere Münze geben.« Der Bürgermeister gewann mit jedem Wort mehr Selbstsicherheit. »Wer sagt mir, dass Ihr die Hexe wirklich getötet habt?«
    »Mein Ehrenwort. Ihr kennt meinen Ruf, sonst hättet Ihr mich nicht engagiert.«
    »Das Wort eines Mörders.« Gernot spuckte ins Feuer.
    Silas trat an ihn heran, zog ein Messer, prüfte dessen Schärfe mit der Spitze seines Fingers. »Wollt Ihr mir meinen rechtmäßigen Lohn vorenthalten?«
    Die Frau des Bürgermeisters packte die Schulter ihres Mannes. »So gib ihm doch das Geld.«
    »Was soll er denn tun?« Gernot schüttelte ihre Hand ab. »Ich muss nur einmal schreien, und das ganze Dorf steht vor der Tür.«
    »Glaubt Ihr wirklich, dass ich Euch genug Zeit lasse, um auch nur einen Laut von Euch zu geben?« Silas balancierte das Messer auf der Spitze seines Fingers. »Oder Euren Kindern?« Mit einer kurzen Bewegung, die zu schnell war, um ihr folgen zu können, warf er die Klinge in Richtung Fenster, wo sie im hölzernen Fensterkreuz stecken blieb.
    Von draußen war ein Schrei zu hören, und das Gesicht des Jungen, der heimlich hineingespäht hatte, war verschwunden.
    »Das nächste Mal wird kein Holz dazwischen sein.«
    Die Frau zitterte. Dann fasste sie sich ein Herz, ging zu einem Regal und holte aus einer Dose einige Münzen. Sie zählte den offenen Betrag ab und drückte Silas das Geld in die Hand. Ihr ganzer Körper bebte, und ihre Augen schimmerten feucht. »Nun geht«, flüsterte sie. »Kommt nie wieder.«
    Silas verbeugte sich übertrieben tief und schritt zur Tür.
    »Wartet!« Der Bürgermeister stand auf. »Ein Kurier hat einen Brief für Euch gebracht.« Er holte einen zerknitterten Umschlag aus seiner Westentasche.
    Silas nahm ihn wortlos entgegen und verließ das Haus. Adele bemerkte seine Unruhe, als er auf ihren Rücken stieg, und trabte zügig aus der Ortschaft heraus. Erst nachdem die letzten Häuser schon nicht mehr zu sehen waren, hielt Silas an und betrachtete den Brief mit gerunzelter Stirn. Er kannte das Siegel, es gehörte Adele von Orvelsbach, seiner Stiefmutter, zu deren zweifelhaften Ehren er sein Maultier benannt hatte. Seit dem Tod seines Vaters hatte er keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt und jeden ihrer Spione einfach getötet. Offensichtlich war er dabei nicht gründlich genug gewesen. Dann blickte er zum Himmel. Er konnte das Gefühl nicht loswerden, dass sich gerade eine düstere Wolke voll Unheil über seinem Kopf zusammenbraute. Fast glaubte er, sie sehen zu können. Dann brach er das Siegel und fing an zu lesen.
    Dein Bruder ist verschwunden.
    Man benachrichtigte mich, dass er eines Morgens nicht zur Andacht in Heidelberg erschien und sein Bett unberührt vorgefunden wurde.
    Finde ihn!
    Adele von Orvelsbach

2
    Alte Wunden
    G
    19. Octobris, Karlsruhe
    D ie Kirchenglocken erklangen plötzlich mit einem lauten Getöse und schienen die Stadt daran zu erinnern, sich an Gottes Gebote zu halten. Icherios zuckte zusammen und durch die hastige Bewegung rutschten seine Füße auf den glatten Pflastersteinen weg, sodass er unsanft auf dem Boden landete. Obwohl die Sonne am klaren Himmel stand, hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet, die den ­Boden in eine Rutschbahn verwandelt hatte. Fluchend rappelte er sich auf, strich seinen schmal geschnittenen, dunklen Gehrock glatt, aus
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