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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm
Autoren: Kerstin Pflieger
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Medizinstudium, sein größter Traum seit seiner Kindheit, hatte aufgrund seiner Armut in weiter Ferne gelegen. Bis zu dem Tag, an dem ihn sein Mentor Raban, ein uralter Vampir, den er zu dem Zeitpunkt noch für einen Menschen gehalten hatte, zur Kanzlei geschickt hatte, wo er Anselm von Freyberg, den Chronisten und Leiter dieser Einrichtung, kennengelernt hatte.
    »Ich dachte, ich wäre ein Rekrut des Ordo Occulto und soll Aufträge für Euch erfüllen?«
    »Ich brauche dich in Heidelberg.« Der Chronist fuhr sich unruhig durch die Haare.
    »Eine neue Serie von Morden?«
    Freyberg zögerte. »Nein.« Dann blickte er Icherios prüfend an. »Deine Ausbildung zum Mediziner kann sich als hilfreich für uns erweisen.«
    Doch der junge Gelehrte war nicht bereit, sich so leicht ablenken zu lassen. »Das ist doch nicht die ganze Wahrheit.«
    »Jetzo, Jungchen, wer bestimmt, was die Wahrheit ist?« Er hob mit einem Arm einen gewaltigen Stapel Bücher hoch, ohne das geringste Anzeichen von Anstrengung zu zeigen. »Du sollst deine Augen für mich in Heidelberg offen halten. Seltsame Dinge gehen dort vor. Menschen verschwinden.« Freyberg holte tief Luft. »Und dem dortigen Sitz des Ordo Occulto ist nicht zu trauen.«
    Icherios lief ein Schauer den Rücken hinunter. Freyberg schickte ihn also wieder in eine ungewisse Zukunft, an einen Ort, an dem er Gefahren vermutete. Sein letzter Auftrag hatte ihn nach Dornfelde geführt, eine kleine Ortschaft im Nordschwarzwald, deren Bewohner – Vampire, Werwölfe und Menschen – von einem brutalen Serienmörder bedroht wurden. Er spürte, dass der Chronist ihm auch diesmal Informationen vorenthielt, aber die Aussicht auf ein Medizinstudium ließ ihn seine Bedenken in den Wind schlagen. »Wann soll ich abreisen?«
    Unter dem Bücherstapel, den Freyberg zur Seite gestellt hatte, kam ein flacher Kasten aus dunklem Holz zum Vorschein. Er öffnete ihn, holte einen kleinen, dunkelroten Lederbeutel heraus, den er vorsichtig schüttelte. »Zur Mitternacht des übernächsten Tages. Du wirst im Magistratum, dem Sitz des Heidelberger Ordo Occultos, wohnen. Ich habe Auberlin, den Leiter der dortigen Außenstelle und dritten Schatzmeister des Ordens, bereits verständigt.«
    »Warum in der Nacht?« Den jungen Gelehrten behagte der Gedanke nicht, in der Dunkelheit reisen zu müssen.
    »Du wirst mit der Geisterkutsche fahren.«
    Icherios blieb die Luft weg. Das klang nicht gut.
    »Aufgrund des schlechten Wetters sind die gewohnten Reiserouten zu unsicher.« Freyberg löste die Schnüre des Beutels und zeigte ihm den Inhalt: ein rötlich-graues Pulver. »Folge der Straße, die durch das Durlacher Tor führt, bis zur ersten Wegkreuzung. Dort streust du das Pfauenblutpulver in einem Kreis um dich herum.«
    »Das ist getrocknetes Pfauenblut?« Icherios fragte sich unwillkürlich, wie viele Tiere dafür hatten sterben müssen.
    »Nein, das ist nur eine Bezeichnung.« Der Chronist seufz­te. »Ich vergesse immer wieder, wie viel du noch lernen musst.«
    Er zog aus einem Stapel aufgequollener Pergamente einen mehrfach gefalteten Zettel und drückte ihn Icherios in die Hand, der ihn beinahe angeekelt fallen gelassen hätte. Das Papier fühlte sich wie eine schleimige Schnecke an.
    »Darauf befindet sich die Anleitung zur Herstellung der Substanz.«
    Icherios überwand seine Abscheu, entfaltete ihn und begann, die verschnörkelte Handschrift zu entschlüsseln.
    Zwei Teile gemahlene Pfauenfedern, ein Teil getrocknete und zerkleinerte Mäuseherzen, Brennnessel, Salz und Schwefel; vermengt in den letzten Strahlen der Sonne, entfaltet es seine Wirkung durch die Zugabe von vier Einheiten Mondlicht.
    »Du wirst noch einiges davon anfertigen müssen, um genug für deine Reisen zu haben. Ich erwarte von dir regelmäßigen Bericht, persönlich.« Der Chronist blickte ihn ernst an.
    Der junge Gelehrte war irritiert, warum sah der Chronist ihn so eindringlich an? Wusste Freyberg, was mit ihm los war, dass er seit Dornfelde kein Mensch mehr war? Vertraute er ihm nicht mehr? Er legte Zettel und Beutel auf einen Tisch, verschränkte die zitternden Hände vor seinem Körper. »Wieso wird sie Geisterkutsche genannt?«
    »Ein Kutscher beging den Fehler, eine Hexe zu verärgern, und wurde von ihr verflucht. Seitdem ist er gezwungen, im Antlitz der Nacht die Straßen der Pfalz und angrenzenden Städte zu bereisen. Legenden ranken sich um ihn, da selbst gewöhnliche Sterbliche die Kutsche im Licht eines Blitzes sehen können.«
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