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Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm
Autoren: Kerstin Pflieger
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Freyberg ergriff Icherios’ Hand. »Merk dir eines, Jungchen. Auch wenn dein Kopf voller Flausen ist, blicke ihm niemals in die Augen, oder du wirst des Todes sein.«
    Icherios schluckte. »Wie finde ich ihn, wenn er nur im Blitzschein zu erkennen ist?«
    »Der Kreis aus Pfauenblut wird es dir ermöglichen und den Kutscher zwingen anzuhalten. Die Reise ist schnell und sicher, vorausgesetzt du begehst keinen Fehler.«
    Icherios steckte das Handbuch, die Anweisungen und den Beutel in seine Manteltasche. »Sollte ich sonst noch etwas wissen?«
    Freyberg zögerte. »Sieh dich vor den Bewohnern des Magistratum vor.«
    Der junge Gelehrte nickte und ließ sich schweigend nach draußen begleiten. Dabei bemerkte er, dass der Chronist ungewohnt nervös wirkte. Seine Hände fuhren fahrig in der Luft umher, als wenn er mit sich selbst streiten würde. Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, blickte er sorgenvoll an dem Gebäude empor. Was würde ihn in der fremden Stadt erwarten? In dem Moment, in dem er sich zum Gehen wandte, öffnete sich die Tür erneut.
    »Die Vorgänge in Heidelberg hängen eventuell mit den Narben an deinen Handgelenken zusammen«, flüsterte Freyberg ihm zu. »Mehr kann ich dir nicht sagen.«
    Icherios stand wie erstarrt, nahm nicht einmal wahr, wie die Tür zufiel und ein lautes Quietschen erklang, als sie von innen verriegelt wurde. Erinnerungen, Ängste und Selbstzweifel, die er versucht hatte zu verdrängen, brachen mit Gewalt hervor. Gedankenverloren krempelte er seine überlangen Ärmel hoch und strich über die wulstigen Narben an seinen Handgelenken, die er sonst sorgsam verbarg. Die meisten Menschen sahen in ihnen die Male eines fehlgeschlagenen Selbstmordes. Für Icherios waren sie ein Andenken an die Todesnacht seines besten Freundes, Vallentin Zirker. Vor zwei Jahren war er schwer verletzt neben Vallentins blutüberströmter Leiche aufgewacht. Seitdem quälte ihn die Angst, dass er Schuld an dessen Tod trug oder ihn gar selbst getötet hatte.
    Warum hatte Freyberg ausgerechnet jetzt angedeutet, dass er etwas von dieser Nacht wusste? Noch bei ihrer ersten Begegnung hatte er vorgegeben, aufgrund der Narben in Sorge zu sein, dass Icherios selbstmordgefährdet sein könnte.
    Zorn brandete in ihm auf. Er war es leid, ständig wie eine Marionette nach dem Willen anderer zu tanzen. Wütend trommelte er mit den Fäusten gegen die Tür der Kanzlei. Es war schließlich sein Leben!
    Doch es blieb still, und die Tür bewegte sich keinen Deut. Frustriert wandte er sich ab. Passanten waren stehen geblieben und tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Es war Zeit zu gehen, bevor noch jemand die Stadtwache rief.
    Zurück in seiner feuchten Kellerwohnung, die er von dem griesgrämigen Schreiner Meister Irgrim gemietet hatte, wanderte Icherios unruhig zwischen Bücherstapeln und alchemistischen Geräten auf und ab. Der Geruch von Schimmel, der sich durch Möbel und Bücher fraß, vermengte sich mit dem Gestank von Schwefelöl, Bleiessig und anderen Reagenzien, die er für seine Experimente verwendete. Eigentlich sollte er packen, aber die Erinnerungen an Vallentin und die neuen Fragen, die er sich wegen dessen Tod stellte, wühlten ihn zu sehr auf, um sich zu konzentrieren. Er blickte zu Maleficium, seiner zahmen Ratte, hinüber, die in ihrem aus Weidenzweigen gebauten Käfig ungeduldig hin und ­her lief und darauf wartete, dass er sie beachtete. Seufzend ging er zu seinem erbärmlich leeren Vorratsregal und holte eine Dose hervor, aus der er einen Streifen Trockenfleisch nahm. Dann öffnete er den Käfig und hielt dem Tier das Futter hin, das es gierig verschlang.
    Maleficium hatte sich verändert, seitdem sie von diesem Trank, der Unsterblichkeit versprach, gekostet hatte: Die Augen leuchteten in einem dunklen Violett; außerdem hatte die Ratte eine Vorliebe für frisches, noch blutiges Fleisch entwickelt und war ein ganzes Stück gewachsen.
    Nachdem Icherios das Tier gefüttert hatte, zog er seinen alten, angeschimmelten Koffer unter einem Regal hervor und begann einige Kleidungsstücke einzupacken. Das war der leichteste Teil, die Auswahl der wenigen Bücher und Gerätschaften, die er mitnehmen konnte, würde ihm viel schwerer fallen.
    Ein Klopfen an der Haustür riss Icherios aus seinen Gedanken. Er hatte es sich angewöhnt, an die Tür zu stürmen, bevor Meister Irgrim sich die Treppe hinuntergewuchtet hatte und seine Besucher abfangen konnte. Zu oft war es vorgekommen, dass dieser Sendungen
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