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Der Kommandant und das Mädchen

Der Kommandant und das Mädchen

Titel: Der Kommandant und das Mädchen
Autoren: Pam Jenoff
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Schulter des Jungen. “Wenn ich deine Mutter sehe, werde ich ihr ausrichten, dass du wohlauf bist.” Ohne auf eine Antwort zu warten, machte ich kehrt und rannte die Treppen hinunter, so schnell ich konnte.
    Draußen blieb ich stehen und sah in beide Richtungen die verlassene Straße entlang. Ich begriff, dass die Deutschen das ganze Viertel geräumt haben mussten. Reglos stand ich da und überlegte, was ich tun sollte. Natürlich hatte Jonas recht. Wenn ich erst einmal im Ghetto war, würde man mich von dort nicht wieder weglassen. Doch welche andere Wahl blieb mir? In unserer Wohnung konnte ich nicht bleiben. Vermutlich war es sogar gefährlich, hier auf der Straße zu stehen. Verzweifelt wünschte ich mir, Jakub wäre hier. Er wüsste, was zu tun war. Aber wenn er hier gewesen wäre, hätte ich gar nicht erst das Haus seiner Familie verlassen müssen, und alles wäre noch in Ordnung. So jedoch stand ich allein auf der Straße, ohne zu wissen, an wen ich mich wenden sollte. Ich fragte mich, wie weit Jakub inzwischen gekommen war. Ob er mich allein gelassen hätte, wenn ihm klar gewesen wäre, was mir so kurz nach seiner Flucht zustoßen würde?
    Ich werde ins Ghetto gehen, beschloss ich. Ich musste einfach wissen, ob meine Eltern dort waren und wie es ihnen ging. Wieder nahm ich Koffer und Taschen auf, dann machte ich mich zügig auf den Weg in Richtung Süden. Meine Schritte und das gelegentliche Schleifen des Koffers auf dem Pflaster waren die einzigen Geräusche, die die frühmorgendliche Stille störten. Ich begann zu schwitzen, und meine Arme taten mir weh, während ich mich an diesem trüben Herbstmorgen mit dem viel zu schweren Gepäck abmühte.
    Wenig später erreichte ich das Ufer der Wisła, die unsere alte Welt von unserer neuen trennte. Am Fuß der Eisenbahnbrücke blieb ich stehen und sah zum gegenüberliegenden Ufer hinüber. Podgorze war für mich ein fremder Stadtteil, der vom Handel lebte und überlaufen war. Als mein Blick über die schmutzigen, heruntergekommenen Gebäude wanderte, konnte ich eben die Oberkante der Ghettomauer ausmachen. Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Du wirst nur in einem anderen Teil der Stadt wohnen, sagte ich mir, doch dieser Gedanke konnte mich nicht trösten. Das Ghetto war nicht Kazimierz, es war nicht unser Zuhause. Ebenso gut hätte ich auf einem anderen Planeten leben können.
    Einen Moment lang überlegte ich, ob ich kehrtmachen und davonlaufen sollte. Aber wohin? Ich atmete tief durch und machte mich daran, die Brücke zu überqueren. Meine Beine waren schwer wie Blei. Während ich mühsam einen Fuß vor den anderen setzte, schlug mir der Gestank von schmutzigem Wasser zwischen den Latten der Brücke hindurch entgegen. Dreh dich nicht um, ermahnte ich mich. Doch kaum hatte ich das gegenüberliegende Ufer erreicht, wandte ich mich fast gegen meinen Willen doch noch einmal um. Ich sah die Wawelburg, wie sie sich am Ufer mit ihren Dächern und Türmen majestätisch zum Himmel emporreckte und von der Sonne in ein goldenes Licht getaucht wurde. Ihre Erhabenheit erschien mir wie ein Verrat. Mein ganzes Leben lang hatte ich in ihrem Schatten gespielt und gearbeitet, war in ihm aufgewachsen. Diese Festung, über Jahrhunderte hinweg Sitz der polnischen Monarchie, hatte mir ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Und jetzt kam es mir vor, als würde ich ausgestoßen. Ich war auf dem Weg ins Gefängnis, doch die Burg schien von meiner Misere nichts wahrzunehmen. Kraków, die Stadt der Könige, war nicht länger meine Stadt. An einem Ort, den ich immer als mein Zuhause betrachtet hatte, war ich zu einer Fremden geworden.

3. KAPITEL
    V om Fuß der Brücke aus ging ich ein paar hundert Meter an der Umgrenzungsmauer des Ghettos entlang. Die Oberkante dieser Mauer hatte die Form großer Bögen, jeweils fast einen Meter breit. Ihr Aussehen erinnerte mich an Grabsteine, und beim Gedanken daran bekam ich Magenschmerzen. Als ich das eiserne Tor erreichte, das den Eingang zum Ghetto darstellte, blieb ich kurz stehen und musste tief durchatmen, ehe ich auf den deutschen Wachmann zutrat. “Name?”, fragte er bereits, noch bevor ich etwas sagen konnte.
    “Ich … ich …”, stammelte ich hilflos.
    Der Wachmann sah von seinem Klemmbrett auf. “Name?”, bellte er.
    “Gerschmann, Emma”, brachte ich heraus.
    Er sah auf seine Liste. “Die gibt’s hier nicht.”
    “Nein, aber ich glaube, meine Eltern sind hier. Chaim und Reisa Gerschmann.”
    Wieder durchsuchte er die
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