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Der Kommandant und das Mädchen

Der Kommandant und das Mädchen

Titel: Der Kommandant und das Mädchen
Autoren: Pam Jenoff
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Antwort. Ich sah zur Uhr über dem Kamin. Es war halb neun. Mein Vater sollte schon vor Stunden in die Backstube gegangen sein, wohingegen meine Mutter nie so früh aufstand wie er, also hätte sie zu Hause sein müssen. Irgendetwas stimmte nicht. Ich atmete tief durch und stellte fest, dass es nicht nach dem üblichen Frühstück meiner Mutter roch, das aus Eiern und Zwiebeln bestand. Beunruhigt lief ich ins Schlafzimmer. Einige Schubladen der Kommode standen offen, Kleidungsstücke hingen heraus. Meine Mutter hätte niemals die Wohnung verlassen, ohne zuvor Ordnung zu schaffen. Dann sah ich, dass die graue Wolldecke verschwunden war, die üblicherweise am Fußende auf dem Bett meiner Eltern lag.
    “Mama?” Wieder keine Antwort. Ich spürte, wie Panik in mir aufstieg. Ich eilte durch das Wohnzimmer zurück in den Hausflur und sah die Treppe hinunter. Bis auf den Nachhall meiner Schritte war im Gebäude alles still. Ich hörte keines der sonst üblichen Geräusche, die durch die hauchdünnen Wände drangen – Menschen, die sich unterhielten, das Scheppern von Kochtöpfen, laufende Wasserhähne. Mein Puls schlug ohrenbetäubend laut. Offenbar waren alle verschwunden! Ratlos blieb ich stehen.
    Plötzlich kam ein leises Knarren aus dem oberen Teil des Treppenhauses. “Hallo?”, rief ich und ging einige Stufen hinauf. Durch das Geländer konnte ich ein Stück blauen Stoffs erkennen. “Ich bin Emma Gerschmann”, sagte ich und benutzte meinen Mädchennamen. “Wer ist da?” Ich kam gar nicht erst auf den Gedanken, Angst zu empfinden. Ich hörte einen Schritt, dann noch einen. Ein Junge, nicht viel älter als zwölf, kam zögernd die Treppe herunter. Ich erkannte ihn als eines der vielen Kinder des Ehepaars Rosenkrantz aus dem dritten Stock. “Du bist Jonas, stimmt’s?”, fragte ich. Er nickte. “Wo sind alle?”
    Fast eine Minute lang schwieg er, und als er endlich antwortete, war seine Stimme so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. “Ich habe auf dem Hof gespielt, als sie kamen.”
    “Wer kam, Jonas?”, fragte ich und fürchtete mich bereits jetzt vor der Antwort.
    “Männer in Uniformen. Ganz viele.”
    “Deutsche?” Wieder nickte er. Meine Beine wollten mir wegsacken, und ich musste mich am Geländer festhalten. “Wann?”
    “Vor zwei Tagen. Alle mussten gehen. Meine Familie auch, und Ihre.”
    Mir drehte sich der Magen um. “Wohin sind sie gegangen?”
    Er zuckte mit den Schultern. “Nach Süden zum Fluss. Alle trugen Koffer und Taschen.”
    Nach Süden? Ins Ghetto, dachte ich und ließ mich auf den Treppenabsatz sinken. Die Nazis hatten begonnen, eine Mauer um ein ganzes Viertel im südlichen Stadtteil Podgorze zu errichten. Alle Juden aus den umliegenden Dörfern mussten dorthin umziehen. Mir war aber nie der Gedanke gekommen, dass man meine Familie ebenfalls umsiedeln könnte, schließlich lebten wir bereits in einem jüdischen Viertel. “Ich habe mich versteckt, bis sie weg waren”, fügte Jonas leise hinzu. Ich sprang auf und lief zurück zu unserer Wohnung. An der Tür blieb ich stehen. Die Mezuzah war nicht mehr da, jemand hatte sie aus dem Türrahmen gerissen. Ich berührte die Stelle, wo der kleine metallene Behälter über Jahrzehnte hinweg gehangen hatte. Mein Vater musste ihn entfernt haben, bevor sie gingen. Er hatte gewusst, sie würden nicht mehr wieder herkommen.
    Ich musste sie finden. Nachdem ich die Wohnungstür zugezogen und mein Gepäck an mich genommen hatte, wandte ich mich an Jonas, der mir nach unten gefolgt war. “Jonas, du kannst nicht hierbleiben. Du bist hier nicht in Sicherheit”, sagte ich zu ihm. “Hast du irgendjemanden, zu dem du gehen kannst?” Er schüttelte den Kopf. Ich konnte ihn unmöglich mitnehmen. “Hier.” Ich kramte ein paar von den Münzen hervor, die Jakub für mich zurückgelassen hatte, und drückte sie dem Jungen in die Hand. “Kauf dir davon etwas zu essen.”
    Er steckte das Geld in seine Hosentasche. “Wohin gehen Sie?”
    Ich zögerte. “Ich versuche, meine Eltern zu finden.”
    “Gehen Sie ins Ghetto?”
    Überrascht schaute ich ihn an. Mir war nicht klar gewesen, dass er wusste, wohin man die Leute gebracht hatte. “Ja.”
    “Die werden Sie nicht wieder weggehen lassen!”, rief Jonas ängstlich. Wieder zögerte ich. In meiner Eile war mir gar nicht eingefallen, dass man mich im Ghetto ebenfalls festhalten könnte.
    “Ich muss jetzt gehen. Pass du gut auf dich auf und halt dich versteckt.” Ich legte eine Hand auf die
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