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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer
Autoren: Else Buschheuer
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sie. »Haaallooo! Jemand zu Hause?« Und sie lauscht. Und kichert beschwipst. Und wühlt weiter.
    Ein von Brandflecken durchlöchertes Seidentuch. Eine zerknitterte Filmrolle. Ein gelblich schmutziges Notenblatt, bedeckt mit dünnen Notenhälsen, die sich biegen unter der Wucht der Melodie. Ob er für eine Frau komponiert hat?, denkt Sonnie. Romantik muss her, muss in mein Leben. Donner muss her. Musik muss her, irgendwas, irgendwas Elementares, Lautes.
    Sonnie kann die Noten nicht lesen, aber sie fühlt ihre Kraft. E7, B6, Klänge, Akkorde, Vibrationen, codiert. Sie möchte sich auf eine der Noten schwingen, ihr fusseliges Hauskleid raffen, wegfliegen, woandershin. Neu anfangen. Als jemand anders. Mit jemand anders. Woanders.
    I dance like the wind.
    Sie steht auf und dreht sich, dreht sich.
    Fly fly fly Clarice, fly fly fly.
    So hatte sie Englisch gelernt. Mit Videokassetten. Mit Filmen. Als sie neu in New York war, in den Achtzigern. Regelrecht gepaukt hatte sie. Jede Nacht. Sie sah dieselben Filme. Sie spulte die Kassetten zurück, einzelne Szenen, wieder und wieder. Sie schlug Wörter nach, bis sie verstand. Sie sprach lippensynchron mit, bis sie es drinhatte. Sie erpaukte sich das Beiläufige, die Aussprache, den Slang. Bis heute gibt es Repliken, die ihr so natürlich über die Lippen kommen, dass man sie für schlagfertig, ihr Englisch für brillant hält.
    English, motherfucker! Do-you-speak-it?
    Nur durch Zitate kann sie fluchen wie ein Bierkutscher.
    Stick your cock up her ass, you motherfucking worthless cocksucker .
    Sonnie dreht sich, bis sie strauchelt und fällt. Sie liegt auf dem alten Parkett. Sie überlegt, wen sie kennt, der diese Geheimsprache entschlüsseln könnte. Musik. Ihr fällt niemand ein, vielleicht, weil sie die Flasche Wein inzwischen so gut wie geleert hat, vielleicht, weil sie sich Freunde nicht nach Tauglichkeit aussucht. Andere sind befreundet mit Anwälten, Tischlern, Steuerberatern, Zahnärzten. Andere haben für jeden Belang einen Freund. Sonnies Freunde sind wie sie und taugen nichts, ein Obdachloser, eine Lebenskünstlerin, eine kinderreiche Sozialhilfe-Empfängerin. Die Großmutter hat ganz Recht. Sie ist für nüschte.
    Für nüschte.
    Sonnie trinkt die warme Neige aus der Flasche. Ein Kassenzettel von Key Food, drei Dollar und 88 Cent. Ihr Key Food im East Village? Nicht zu erkennen. Damalswurden Adresse, Datum, Uhrzeit noch nicht auf jeden Kassenzettel gedruckt. Heute wären sie das perfekte Alibi. Wann, sagten Sie, ist er erschossen worden? Um neun Uhr abends? Nein, da war ich bei Key Food, hier, sehen Sie selbst!
    »Weitokai!« Es knackt. Es rauscht. Aus Gongs gedrungener Brust kommt eine Micky-Maus-Stimme. Mit fahrigen Bewegungen öffnet Rhett Gongs Windjacke und fördert aus der Innentasche ein Funkgerät zutage. Aus dem Funkgerät kommt eine Stimme. Das Funkgerät hat zwei Knöpfe. Rhett drückt einen und ruft »SOS!«. Er drückt den anderen und ruft »Hilfe!«. Er lauscht. Er drückt noch mal den einen Knopf und ruft »Un-fall!«. Er drückt den anderen und ruft »Fahr-stuhl ka-putt!«. Er lauscht. Er drückt beide Knöpfe und ruft mit dünner, sich überschlagender Stimme: »Somebody? Somebody?«
    Er fürchtet sich vor seinem eigenen Echo. Vorm Knirschen und Knacken der Fahrstuhlhalterung. Vor Gongs Röcheln. Vor Gongs Tod. Vor bad news . Er hat Angst vor den großen Männern. Mit den Uniformen. Mit den Masken. Mit den Schweißgeräten.
    Der Stimme am anderen Ende der Leitung ist nichts anzumerken. Sie kräht, sie schnattert, sie keift in abgerissenen, hastigen, unverständlichen Lauten. Hinter jeder zweiten Silbe steht ein Fragezeichen.
    Hinter Rhett steht ein Ausrufezeichen. Das war’s, denkt er. Schlotternd lässt er sich in den Schneidersitz nieder.
    Er drückt das Rückgrat durch.
    Er macht seine Atemübungen.
    Er murmelt Ellis’ Affirmationen.
    »Ich bin eine Parzelle des Universums. Das Universum fühlt sich glücklich in mir. Ich bin die Brooklyn Bridge, der Hudson River, das Empire State Building, der Central Park …«
    Sie helfen nicht.
    Sie haben noch nie geholfen.
    Rhett schließt die Augen. Er ist ein Bankräuber. Er ist ein gefährlicher, maskierter Mann. Er riecht nach frischem männlichem Schweiß. Er stürmt in die Bankfiliale. Er macht coole Sprüche. Er lässt sich Geldsäcke zuwerfen. Alle fürchten ihn. Alle bewundern ihn. Er schießt auf die Überwachungskameras. Er ist mutig und stark. Er entkommt mit dem Geld.
    Sonnie hat sich bis auf den
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