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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer
Autoren: Else Buschheuer
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Kofferboden gewühlt. Krümel und tote Kakerlaken, dazwischen ein Männertaschentuch, beige mit braunem Rand. Sie knüllt das Taschentuch in der Faust, hebt es ans Gesicht, riecht daran.
    Mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie sich vor dreißig Jahren ausgeblendet hat, kommt ihre Kindheit zurück. Geräuschlos steht sie hinter ihr und schaltet den Projektor an:
    Die Bilder flackern in Sepia. Sonnie mit Zöpfen auf Großvaters Schoß. Er wischt ihr mit seinem schmutzverkrusteten Taschentuch den Mund ab. Das Taschentuch ist beige mit braunem Rand.
    Dann kommt der Geruch. Der Großvater riecht nach Sonne und Kernseife. Der Tabak riecht nach Vanille. Das Taschentuch riecht nach Schmieröl.
    Dann kommt der Klang. Das Klimpern des Kleingeldes, das der Großvater immer in den Hosentaschen hat. Pfennige, Fünfer, Groschen. Die leise heisere Stimme des Großvaters. Das trockene Schmatzen, als er sie auf die Wange küsst.
    Sie hat sich ewig nicht an ihn erinnern können. Warum so lange nicht? Warum jetzt?
    An die Großmutter dachte sie oft, nie an ihn. Sie hat kein Bild ihrer Kindheit herstellen können in ihrem Kopf. Nun steht sie im Zimmer, ihre Kindheit, wie eine andere Person. Und sie hat den Großvater mitgebracht.
    Do you think, the dead come back and watch the living?
    Sonnie robbt zu Rhetts CDs. Sie robbt auf Händen und Knien. Die CDs stapeln sich auf dem alten Parkett. Sie kniet vor den CD-Türmen. Ihr Gesicht kommt ihnen nah. Sie wirft einen um. Sie murmelt vor sich hin. Die CDs liegen verstreut. Sonnie wühlt in den CDs. Sie zieht eine heraus. Sie gluckst fröhlich. Sie wirft die CD ein und drückt auf PLAY.

ZWEITES KAPITEL
    Es ist weit nach Mitternacht. Rhett schließt die Wohnungstür auf. Er bleibt stehen und keucht vom Treppensteigen. Sonnie liegt zusammengerollt auf dem Boden, in ihrem schwarzen, fusseligen Hauskleid, neben sich ein umgestoßenes Weinglas mit Lippenstiftspuren, einen Föhn, verrottete Papierfetzen. Seine CDs sind aus den Hüllen gerissen und auf dem Boden verstreut. Überall Blutspuren.
    Er erschrickt. Nach zwei Stunden Fahrstuhl mit Gong und vier Stunden Notaufnahme kann man nur erschrecken bei einem Anblick wie diesem. Was ist hier geschehen? Eine Orgie? Ein Überfall? Und der schmutzige Koffer …
    No bad news.
    Der Koffer. In flagranti! Natürlich! Dazu muss sie ihn betrügen. Mit dem Koffer. Er leert eine eiskalte Dose Pepsi. Er eilt unter die Dusche. Die Vorstellung, sie den Armen des anderen zu entreißen, törnt ihn an. Nackt und sauber kniet er neben Sonnie nieder.
    Sie atmet Weinwolken aus.
    Er atmet Zahnpastawolken aus.
    Er ist sich jetzt sicher, nicht zu stinken.
    Sonnies Kleid ist hochgerutscht. Rhett legt seine Finger auf ihren Hintern. Ein Batzen Hefeteig, der ihm entgegenwächst. Was für ein Arsch! Was für ein Aktmodellsie wäre! Wie wunderbar er sie malen könnte, wenn er ein Maler geworden wäre! Warum ist er nicht Maler geworden in einer Welt, in der es sogar Pfuscher wie Picasso zu höchstem Ruhm gebracht haben?
    Ein blauer Fleck sitzt über dem Beckenknochen. Sonnie ist wie eine reife Frucht, sehr druckempfindlich. Rhett drückt seine Fingerkuppen in Sonnies Backen. Er nimmt die Finger weg. Zehn Dellen bleiben und verschwinden langsam wieder. Sonnies Hintern lässt Rhett den Albtraum vergessen, die Feuerwehrmänner mit den Schweißgeräten, die Fahrt im Krankenwagen zum St. Vincent’s Hospital. Das Warten in der Notaufnahme. Rhett streichelt Sonnies Hintern, knetet ihn, drückt ihn, küsst ihn. Wie herzlos er ihn vorhin aus der Wohnung geschubst hat, wie weich und weiblich er jetzt fällt! Rhett betrachtet Sonnie. Ihren hellen Kopf. Ihren schönen Arsch.
    Seit der Pubertät hat Rhett das weibliche Gesäß kategorisiert. Sein erstes war das von Schwester Cäcilia. Er hatte sie durchs Schlüsselloch beobachtet, als sie sich entkleidete. Eine klassische Birne, die über das vollendete Reifestadium hinaus am Baum hängen geblieben war. Der Baum begann bereits, sich seinen Saft zurückzuholen. Die Frucht mumifizierte. Der verbotene Anblick von Schwester Cäcilias Hintern war Rhetts Urerlebnis – sein Einstieg in die Arschwissenschaft. Er konnte ohnehin mit Gefühlen schlecht hantieren, er wollte sie nur handlich portionieren und wusste damals bereits, dass er es darin nie zur Meisterschaft bringen würde. So wurde stattdessen das weibliche Gesäß sein Steckenpferd.
    Als er vierzig Jahre später Sonnie traf, unterschied er drei Grundformen, den Apfel, die Birne
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