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Der Koffer

Der Koffer

Titel: Der Koffer
Autoren: Else Buschheuer
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verdienter Tod wäre erfolgt. So ist er aufgewachsen, als Unfallüberbleibsel ohne jegliches Überlebensrecht. Jemand, der sich durchschummelt, der vom Sensenmann übersehen worden ist. Er hatte mit seinen Eltern im Auto sterben sollen. Immer wieder und immer öfter ist sie zu ihm zurückgekehrt, die Frage, welchen Zweck ausgerechnet sein Überleben erfüllen soll. Er hat eine weitere Gnadenfrist erhalten. Doch worin besteht die Gnade?
    Dem Koffermann hat sicher auch jemand Frühstück gemacht, denkt Sonnie. Aber wer? Eine Haushälterin? Seine Frau? Seine Geliebte? Dieselbe, die nach seinem Tod den Koffer in den Regen stellte? Ihre Mutter hatte ihrem Vater jeden Morgen Frühstück im Arbeitszimmer serviert, grünen Tee und ein in »Reiterchen« geschnittenes Butterbrot. Nie hatte er gemeinsam mit ihnen am Frühstückstisch gegessen.
    Rhett ist froh, nicht allein zu sein. Er beugt sich über Sonnie und küsst sie auf die kalte Nasenspitze. Sonnie ist seine Insel. Nur Idioten bringen bad news mit auf ihre Insel.
    Sonnie rollt sich von der Matratze, steigt über das Chaos der vergangenen Nacht, geht zur Stereoanlage und drückt auf PLAY.
    »Rachmaninoff«, ruft Rhett begeistert. Er nimmt sich ihr Kissen und stopft es hinter seinen Rücken. Er liegt gern genauso krumm wie er geht.
    »Gestern Nacht hab ich Farben gesehen beim Musikhören«, sagt Sonnie. »Dicke rote und gelbe Farben, Kleckse, träge Kleckse, wie in Magmalampen.«
    »Solltest du im hohen Alter von vierzig auf den Geschmack gekommen sein?«
    »Neununddreißig. Noch bin ich neununddreißig.«
    Ob sich etwas ändert im Leben eine Frau, wenn sie vierzig wird?, denkt Sonnie.
    »Wusstest du, dass die Vierzig die Symbolzahl der Prüfung ist?«
    Vierzig.
    It’s there. It’s just sitting there. Like some big dead end.
    »Und du bist einundfünfzig.«
    Das Abbeißen vom Toast macht nicht mal ein Geräusch.
    »Korrekt, und ich schätze mich glücklich, einer von den Opas zu sein, die eine junge Knackige abkriegen. Ich bin jedenfalls damals gern vierzig geworden. Als die verzehnfachte vier repräsentiert die Zahl vierzig Vollkommenheit. Aber noch bist du 39,999 Periode.«
    Periode. Sonnie registriert ein flaues Gefühl. Das Gefühl sitzt im Bauch. Sie ist dreieinhalb Wochen über die Zeit. Vielleicht der Umzug. Vielleicht die Wechseljahre. Vielleicht …
    »Das 3. Klavierkonzert, eine berühmte Aufnahme von 1978, Carnegie Hall«, sagt Rhett. Sonnie legt sich wieder neben ihn auf die Matratze und versucht, ihr Kissen hinter seinem Rücken hervorzuziehen.
    »Ach, du hörst, dass es eine Aufnahme von 1978 ist? Angeber! Und überhaupt! Gib mein Kissen her!«
    »Ich würde jetzt gern sagen, dass ich das höre, aber da ich nur eine CD von Rachmaninoff besitze, du hingegen gar keine, habe ich blitzschnell kombiniert.«
    Rhett ist über seinem Versuch, schlagfertig zu sein, für einen Moment unaufmerksam. Es gelingt Sonnie, ihr Kissen zurückzuerobern.
    Er stöhnt auf.
    »Was ist denn?«, fragt Sonnie wie jemand, der die Antwort nicht hören will.
    Rhett schlürft stumm den dünnen Kaffee. Er hat eine Beule am Hinterkopf. Er hat Kratzer am Rücken. Er lässt sich zurückfallen und schließt die Augen. Ganz heiß wird ihm. Der Aufprall. Der dunkle, enge Raum. Das Knirschen in den Stahlseilen. Der sabbernde Chinamann, der wie ein Mehlsack auf ihm liegt. Die Angst. Die Feuerwehrleute mit Masken und Schweißgeräten. Der Krankenwagen. Das Elend in der Notaufnahme. Sein tatsächliches Erlebnis ist mit seinem Albtraum verschmolzen. Er träumt immer Katastrophen und Unfälle. Manchmal erlöst ihn sein Aufwachen regelrecht. Wenn er nach dem Aufwachen begreift, dass er noch nicht querschnittsgelähmt, noch nicht geisteskrank, noch nicht ermordet ist, ist er für den Bruchteil einer Sekunde froh. Der unmittelbar nächste Impuls ist Scham.
    »Willst du gar nicht wissen, was in dem Koffer ist?«, fragt Sonnie.
    »Ich seh es ja, ich seh es ja! Gerümpel. Gerümpel und Ungeziefer!«
    Sonnie mustert Rhett. Wie ein prähistorischer Vogel liegt er da. Sie denkt an Cholas neuen Liebhaber, dessen bloßer Anblick sie zu verjüngen scheint. »Bei Männern würden wir uns nie inne Quere kommen, Mädel«, hat Chola einmal gesagt. Sonnie fühlt sich vonMännern angezogen, die eine Vergangenheit haben, von gewesenen. Chola hält sich an Jünglinge, an die straffen, die mit der Zukunft. »Vergangenheit hab ich selber«, sagt Chola. »Warte nur, bis du vierzig bist. Bei mir fing’s erst mit vierzig
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