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Der König von Havanna

Der König von Havanna

Titel: Der König von Havanna
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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dass es jetzt reichte, und brachen ein. Unter lautem Krachen stürzte alles herab. Das Dach und die Mauern. Auch der Fußboden gab nach, und alles fiel noch einmal fünf Meter tiefer zur Erde. Nur das trockenere und festere Stück Mauer neben dem Eingang blieb stehen. Genau dort saßen sie auf ihrem Strohsack. Inmitten des Staubs und der Dunkelheit tasteten sie nach einander und umarmten sich. Sie waren am Leben!
    »Himmel, Rey, alles in Ordnung mit dir? Los, wir müssen hier schnellstens weg! Mach schon!«
    »Nein, nein, o verdammt, auuu … Scheiße!«
    Rey wollte sein linkes Bein anziehen, das unter einem riesigen Steinbrocken eingeklemmt war. Er schaffte es nicht. Endlich gelang es Magda, trotz Staub und Dunkelheit zu sehen, was geschehen war. Sie wollte versuchen, ihm zu helfen, den Schuttbrocken wegzuschieben. Vergebens. Er war viel zu schwer. Sie hörten, wie die noch stehenden Stücke von Mauer und Dach knarrten. Jeden Moment konnte auch dieser Teil einstürzen. In seiner Verzweiflung, festgeklemmt, wie er war, tastete Rey um sich und fand ein Stück Rohr. Er zog es heran.
    »Da, Magda, nimm das und benutz es als Hebel!«
    Sie setzte mehrmals an. Der Steinbrocken bewegte sich etwas. Noch ein wenig mehr. Rey zerrte mit aller Kraft und zog sein Bein zu sich, das in der Falle eingequetscht gewesen war. Höchste Zeit, von hier wegzukommen. Sie traten hinaus auf den Flur. Es gab keine Treppe mehr. Auch sie war eingestürzt. Sie standen jetzt auf einem winzigen Stück Boden und Mauer in fünf Meter Höhe. Unglaublicherweise hielt es sich noch aufrecht. Rey dachte nicht weiter nach. Er packte Magda bei der Hand und sagte zu ihr nur: »Los!«
    Sie sprangen und landeten auf allen vieren in den Trümmern, rissen sich Hände und Knie auf. Rey humpelte. Sie flüchteten zur Straße. Trotz des Regens stand dort eine Gruppe von dreißig, vierzig Schaulustigen. Einer rief: »Seht nur, da sind zwei Überlebende!« Sie sahen nicht zurück, liefen direkt zum Bahnhof. Hinter ihrem Rücken krachte es laut: Auch das letzte Stück von Magdas Zimmer gab nach.
    Rey humpelte. Der Knöchel tat ihm weh. Er trug nur eine kurze Hose. Magda hatte Shorts und eine zerlumpte Bluse an, die sie gerade noch hatte greifen können. Beide liefen ohne Schuhe. Sie waren von weißem Staub bedeckt, verängstigt, orientierungslos, sahen aus wie zwei der Hölle Entlaufene. Der Bahnhof war voll evakuierter Familien, weinender Kinder, Leute, die um einen Eimer Wasser Schlange standen. Auch in der Umgebung liefen viele Leute umher. Hier war Katastrophengebiet. Dutzende Gebäude waren eingestürzt. Niemand wusste, wie viele Tote und Verletzte es bisher gab. Und es regnete weiter in Strömen. Magda hängte sich an Reys Arm, als sie sich in Egido in einen Türrahmen geflüchtet hatten.
    »Verdammt, Rey, ich habe eine Kiste Erdnüsse und fünfzig Pesos verloren.«
    »Ist ganz egal. Wir haben Glück, dass wir unser Leben retten konnten.«
    »Tut dir das Bein weh?«
    »Der Knöchel.«
    Magda untersuchte es. Es war nicht entzündet, tat ihm nur weh.
    »Ist vielleicht ein Knochen gebrochen?«
    »Was weiß ich.«
    Gegenüber am Bahnhofsportal stand ein Feldzelt mit der Flagge des Roten Kreuzes.
    »Sieh mal, Rey, da gibt’s bestimmt einen Arzt.«
    »Nein, nein, nein.«
    »Was heißt hier nein? Los, komm schon.«
    »Nein. Ich gehe nicht.«
    »Warum nicht, Rey?«
    »Ich mag keine Ärzte und keine Zahnärzte und all das.«
    »Rey, jetzt stell dich nicht so an! Los, komm!«
    Magda packte ihn am Arm und zerrte ihn fast hinter sich her. Das Zelt war nur für schwere Notfälle. Man konnte ihn nicht behandeln. Jemand wies sie darauf hin, dass man in den Lagerräumen des Innenhofs ein kleines Lazarett errichtet hatte. Noch tiefer durchnässt, kamen sie in den Innenhof des Bahnhofs. Das Lazarett war die reinste Irrenanstalt. Es befand sich in den Lagerräumen der Expressgüter. Inmitten aller möglichen Gegenstände, die aus den Provinzen angekommen waren, aber nicht ausgeliefert werden konnten, hatte man Feldbetten, Pritschen oder auch nur einfach Matratzen am Boden aufgereiht. Kranke, Ärzte und viele andere Leute wuselten umher. Alle gingen, liefen, schrien, sprachen. Alles gleichzeitig. Nachdem Magda viel Theater gemacht hatte – Rey sagte kein Wort –, nahm sich eine Krankenschwester ihrer an. Sie untersuchte seinen Knöchel.
    »Ja, schon möglich, dass er gebrochen ist … ich weiß nicht … obwohl er nicht angeschwollen ist … Tut er dir weh? Ich weiß nicht, was
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