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Der Koch

Der Koch

Titel: Der Koch
Autoren: Martin Suter
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Und wieder. Andrea stand wütend auf. Sie warf sich den Kimono über und stapfte zur Tür. »Ja?«, blaffte sie in die Gegensprechanlage.
    »Ich bin's, Maravan.« Er stand bereits vor der Wohnungstür. Sie öffnete und ließ ihn ein.
    »Wie siehst du denn aus?«
    Maravans Haar war zerzaust. Er war unrasiert, was bei seinem starken Bartwuchs wirkte wie ein Dreitagebart. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, und sein Blick war verändert. Etwas war erloschen.
    »Was ist passiert?«
    Anstatt einer Antwort schüttelte er nur stumm den Kopf. »Ich höre auf«, stieß er hervor.
    Sie wusste sofort, was er meinte, fragte aber dennoch: »Wie, du hörst auf?«
    »Ich koche ab sofort nicht mehr für
Love Food.«
    Makeda stand jetzt in der Schlafzimmertür. Sie hatte ein Leintuch über den Brüsten zusammengeknotet und rauchte.
    »Dein Neffe?«, fragte sie.
    Er senkte den Kopf.
    Makeda ging auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. Andrea sah, wie seine Schultern zu zucken begannen. Das Zucken erfasste auch seinen Rücken. Plötzlich drang ein Geräusch aus seiner Brust. Ein hoher, klagender, langgezogener Ton, der so gar nicht zu diesem großen, stillen Mann passte.
    Und jetzt verzog sich auch Makedas Gesicht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie verbarg schluchzend ihr Gesicht an seiner Schulter.
     
    Eine Stunde später hatte sich Maravan so weit beruhigt, dass sie ihn gehen lassen konnten.
    »Über das Aufhören sprechen wir ein andermal«, sagte Andrea vor der Wohnungstür.
    »Darüber gibt es nichts mehr zu reden.«
    »Das löst wenigstens das Problem mit Dalmann«, bemerkte Makeda.
    »Welches Problem?«
    »Dalmann wollte ein
Love Menu«,
erklärte Andrea. »Mit Makeda. Bei sich zu Hause.«
    Maravan ging. Aber auf dem Treppenabsatz wandte er sich noch einmal um und kam zurück. »Aber nach Dalmann höre ich auf.«
     
     

47
    »Wenn jemand eines unnatürlichen Todes stirbt, findet seine unbefriedigte Seele keine Ruhe und geistert immer wieder in unserer Welt herum.«
    »Glauben Sie das?«, fragte Sandana. Sie waren bis zum höchsten mit dem Tram erreichbaren Punkt der Stadt gefahren und von dort aus im nahen Wald spazieren gegangen. Es war kalt und hatte bis achthundert Meter hinunter geschneit. Maravan hatte gehofft, auf Schnee zu treffen, denn seit seinem Winterspaziergang im Engadin sehnte er sich manchmal nach dieser weißen Stille. Aber alles war grün oder braun. Nur wenn der Wind den Hochnebel aufriss, konnte er einen Blick auf die weißschimmernden Hügel und Wälder erhaschen.
    »So hat man es mich gelehrt. An der Religion habe ich nie gezweifelt. Ich kenne niemanden, der daran zweifelt.«
    Sandana trug zu ihrer Steppjacke eine pinkfarbene Wollmütze, die sie tief in die Stirn gezogen hatte. Sie verlieh ihr ein kindliches Aussehen. Es wurde noch dadurch verstärkt, dass sie trotz des ernsten Themas immer wieder mit weit geöffnetem Mund den Atem ausstieß und fasziniert ihrer Dampfwolke nachblickte. »Ich schon. Wenn man hier aufwächst, lernt man zu zweifeln.«
    Maravan dachte darüber nach. »Muss schwierig sein.«
    »Zweifeln?« Er nickte.
    »Glauben ist auch nicht einfach.«
    Ein älteres Paar kam ihnen entgegen. Die Frau hatte auf den Mann eingeredet und verstummte jetzt. Auch Maravan und Sandana unterbrachen ihr Gespräch. Als sie auf gleicher Höhe waren, sagten alle vier »Grüezi«, wie es das ungeschriebene Gesetz der Waldspaziergänger vorschrieb.
    Sie gelangten an eine Weggabelung. Ohne zu zögern, entschied sich Maravan für den Weg, der anstieg, dem Schnee entgegen.
    Sie gingen im gleichen Tempo weiter. Die Anstrengung vergrößerte die Pausen, erst zwischen den Sätzen, dann auch zwischen den Worten.
    »Der Krieg ist bald vorbei, sagen alle.«
    »Hoffentlich«, seufzte Maravan.
    »Verloren«, fügte sie hinzu.
    »Aber wenigstens vorbei.«
    »Gehen Sie zurück?«
    Maravan blieb stehen. »Bis jetzt war ich mir sicher. Aber jetzt, ohne Nangay und Ulagu ... Und Sie?« »Zurück? Ich bin von hier.«
    Der Weg führte in eine Lichtung und machte eine leichte Biegung. Als sie deren Mitte erreichten, stand plötzlich ein Reh auf dem Weg. Es wandte ihnen erschrocken den Kopf zu und lief davon. Auf dem höchsten Punkt der Böschung blieb es reglos stehen und sah auf sie herab.
    »Vielleicht Ulagu«, sagte Sandana.
    Er blickte sie überrascht an und sah sie lächeln. Da legte er die flachen Hände vor dem Gesicht zusammen und verneigte sich in die Richtung des Rehs. Sandana tat es ihm nach.
    Aus dem
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