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Der Knochenjäger

Titel: Der Knochenjäger
Autoren: Jeffery Deaver
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zwei Stunden —, wollte sie ihren Spind in Midtown South ausräumen und zur Fortbildung ins Präsidium nach Downtown fahren.
    Doch sie blies den Einsatz nicht ab — sie brachte es nicht über sich. Sie ging weiter: den heißen Gehsteig entlang, durch eine Lücke zwischen zwei verlassenen Wohnblocks, über ein weiteres verwildertes Grundstück.
    Sie grub den langen Zeigefinger in das flache Dach ihrer Uniformmütze, in das Nest ihrer langen, hochgesteckten roten Haare. Sie kratzte sich krampfhaft, griff dann unter die Mütze und kratzte weiter. Schweiß rann ihr über die Stirn und kitzelte sie, worauf sie sich auch die Augenbrauen vornahm.
    Sie dachte: Die letzten zwei Stunden auf der Straße. Damit kann ich leben.
    Als Sachs tiefer in das Gestrüpp vordrang, war ihr an diesem Morgen zum erstenmal unwohl zumute.
    Jemand beobachtete sie.
    Raschelnd strich der heiße Wind durch das dürre Gestrüpp, dazu kam der Lärm der Personen- und Lastwagen am Lincoln Tunnel. Ein Gedanke ging ihr durch den Kopf, der Streifenpolizisten häufig zu schaffen machte: Diese Stadt ist so verdammt laut, daß sich jemand von hinten mit dem Messer an mich ranschleichen könnte, ohne daß ich es überhaupt mitbekäme.
    Oder ein Zielfernrohr auf meinen Rücken richten ...
    Sie fuhr herum.
    Nichts als trockenes Laub, rostige Maschinenteile und Müll.
    Sie zuckte ein paarmal zusammen, als sie auf einen Steinhaufen kletterte. Amelia Sachs, einunddreißig Jahre alt - erst einunddreißig, wie ihre Mutter sagen würde -, litt an Arthritis. Ein Erbteil ihres Großvaters, und zwar ebenso eindeutig, wie sie die gertenschlanke Figur von ihrer Mutter und das gute Aussehen von ihrem Vater hatte, in dessen Fußstapfen sie auch beruflich getreten war (woher die roten Haare stammten, wußten die Götter). Ein weiterer stechender Schmerz, als sie sich durch ein hohes, halbvertrocknetes Gebüsch zwängte. Sie blieb gerade noch rechtzeitig stehen, denn nur einen Schritt vor ihr fiel das Gelände mindestens zehn Meter steil ab.
    Unter ihr lag eine düstere Schlucht — tief in das Muttergestein der West Side eingegraben. In ihr verlief die Gleisbettung für die Amtrak-Züge in Richtung Norden.
    Sie kniff die Augen zusammen und blickte hinunter auf den Grund der Schlucht, auf eine Stelle unmittelbar neben der Bahntrasse.
    Was war das?
    Ein kreisrunder Fleck aufgewühlter Erde, aus dem eine Art Ast aufragte? Es sah aus wie -
    Ach, du lieber Gott...
    Sie erschauderte beim bloßen Anblick. Spürte, wie ihr schlecht wurde, wie ihre Haut zu prickeln begann. Sie mußte sich mit aller Macht zusammennehmen, denn am liebsten hätte sie kehrtgemacht und so getan, als hätte sie nichts gesehen.
    Er hofft, daß das Opfer tot ist. Um seinetwillen.
    Sie rannte zu einer eisernen Leiter, die vom Gehsteig hinab zum Bahnkörper führte. Sie griff nach dem Geländer, hielt sich aber gerade noch rechtzeitig zurück. Mist. Der Täter könnte über diese Leiter geflüchtet sein. Wenn sie sie anfaßte, ruinierte sie womöglich die Fingerabdrücke, die er hinterlassen hatte. Na schön, dann eben auf die komplizierte. Sie atmete tief durch, um die Schmerzen in ihren Gelenken zu unterdrücken, setzte ihre Dienstschuhe - sie hatte sie für den ersten Tag in ihrer neuen Stellung eigens auf Hochglanz poliert in die ins Gestein gekerbten Spalten und kletterte am Felsen hinab. Sie sprang die letzten anderthalb Meter zur Bahntrasse hinunter und rannte zu dem Fleck, an dem das Erdreich aufgegraben worden war.
    »O Mann...«
    Es war kein aus dem Boden ragender Ast, es war eine Hand. Die Leiche war aufrecht begraben und mit Erde zugeschüttet worden, bis nur mehr Unterarm, Handgelenk und Hand herausstanden. Sie starrte auf den Ringfinger: Sämtliches Fleisch war entfernt worden, und auf dem blanken, blutigen Knochen steckte ein mit Diamanten besetzter Damenring.
    Sachs kniete sich hin und fing an zu graben.
    Als sie mit den Händen die Erde nach hinten schleuderte wie ein Hund, fiel ihr auf, daß die nicht verstümmelten Finger weit gespreizt und unnatürlich durchgebogen waren. Was ihr verriet, daß das Opfer noch am Leben gewesen war, als man ihm die letzte Schaufel Erde auf das Grab geworfen hatte.
    Und vielleicht immer noch lebte.
    Sachs wühlte wie wild im lockeren Erdreich und zerschnitt sich die Hand an einer Glasscherbe, worauf sich ihr dunkles Blut mit der dunkleren Erde mischte. Sie stieß auf die Haare, dann auf die Stirn, sah die typischen Anzeichen einer Zyanose, die bläulichrote
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