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Der Knochendieb

Der Knochendieb

Titel: Der Knochendieb
Autoren: Thomas O'Callaghan
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oder Supermärkten Frauen auf? Falls dem so war, dann hatte es Driscoll jetzt mit Audubons schlimmstem Albtraum zu tun. Und lauerten hier womöglich noch mehr Raubvögel?
    Er entsicherte seinen Glock-9-mm-Revolver und musterte den riesigen Vogel. Einen Moment lang stand er wie erstarrt da und flehte innerlich darum, dass seine Ängste bezüglich des Knochens unzutreffend waren, doch die Beklommenheit wollte sich nicht legen, und so fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren.
    Als er ein weiteres Mal Margarets Namen rief, erleuchteten Flutlichter die majestätische Kuppel. Der Raum reagierte also auf Geräusche. Driscoll öffnete eine Tür, die in eine Bibliothek mit ledergebundenen Büchern in lackierten Regalen führte. In der Mitte des Raums erglänzte ein Louis-seize-Sekretär im Schein seiner Taschenlampe,
während an einem metallicfarbenen Anrufbeantworter, der mit einem antiken Telefon verbunden war, ein winziger Lichtpunkt blinkte. Driscoll hörte die Nachrichten ab. Eine schnarrende Akademikerinnenstimme dankte Pierce für seinen großzügigen Zuschuss zum Bau einer Herzstation im Saint Finbar’s Hospital Center. Ein Mann mit schwerem italienischem Akzent sagte die Lieferung eines neuen Lancia zu, der am 31. im Hafen von Elizabeth, New Jersey, ausgeladen werden sollte. Eine Sekretärin von Chelsea Chemicals bestätigte die Lieferung von Bestellung Nr. 69732-B an seine Privatadresse. Dann schaltete sich das Gerät ab.
    Driscoll hätte gern gewusst, was Bestellung Nr. 69732-B enthielt. Vielleicht fand sich ja in dem Louis-seize-Sekretär eine Antwort.
    Er durchwühlte die Schubladen und stieß auf alphabetisch sortierte Aktendeckel. Der Ordner von Chelsea Chemicals war voller Lieferscheine, Rechnungen, Prospekte und Garantieunterlagen. Pierce war offensichtlich Stammkunde. Bestellung Nr. 69732-B umfasste eine große Menge Schwefeltrioxid. Driscoll rief auf dem Handy Thomlinson an: »Cedric, ich will wissen, wofür man Schwefeltrioxid benutzt. Rufen Sie mich auf dem Handy zurück.«
    Driscoll stampfte auf den Marmorfußboden. Der Widerhall hörte sich an wie der Schlag einer kleinen Trommel und ließ auf einen darunterliegenden Hohlraum schließen. Doch wo war der Einstieg, die Falltür oder die Stufen, die nach unten führten? Kein Architekt würde ein Gebäude mit mehreren Ebenen errichten, ohne für Verbindungswege zu sorgen.
    Die nächsten fünfundvierzig Minuten suchte er jeden
Raum und jeden Wandschrank ab. Die Räume waren unterschiedlich groß und von fachkundigen Händen eingerichtet worden, doch nirgends fand sich eine Spur von Margaret. Er gelangte in einen Flur, der besser zum Schloss von Versailles gepasst hätte als zu einem Wohnhaus auf Long Island. Am Ende des Flurs erblickte er mithilfe seiner Taschenlampe eine Konstruktion aus geschnitztem Holz mit Goldauflage. Ein Beichtstuhl! Warum stellte sich jemand einen Beichtstuhl ins Haus? Der Anblick verursachte ihm Unbehagen. Er musste an seine eigenen Verfehlungen denken und daran, dass es eine halbe Ewigkeit her war, seit er zuletzt in einem Beichtstuhl gekniet hatte. Während er noch über seine Entdeckung staunte, wanderte der Strahl seiner Taschenlampe über Friese mit Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament: die Vertreibung aus dem Paradies, die Köpfung des Holofernes durch Judith, die Wiederauferstehung des Lazarus, Mariä Himmelfahrt und der Jüngste Tag.
    Driscoll zog die Tür auf und betrat den Beichtstuhl. Es ging völlig geräuschlos. Alles war gut in Schuss. Er spürte Gewissensbisse, während ihm eine innere Stimme vorwarf, eine Grenze überschritten zu haben. Eigentlich hatte er sich bereits mit seiner Pietätlosigkeit abgefunden, doch das hier war ein Sakrileg. Widerwillig kniete er sich hin und nahm Büßerstellung ein. Was machst du hier?, fragte die Stimme in seinem Kopf, ehe er ein Klicken vernahm. Unter ihm setzte sich ein Getriebe in Gang, der Fußboden gab nach und begann, langsam nach unten zu sinken. Manchmal werden Gebete eben erhört, dachte er, als er etwa zehn Meter tiefer zum Stehen kam.
    Driscoll trat hinaus in einen geräumigen Weinkeller.
Sogleich fiel sein Blick nach rechts auf eine Reihe beleuchteter Ausstellungsvitrinen. Leere Augenhöhlen aus Schädeln von Vogelskeletten blickten ihn an. Er erwiderte ihren Blick und studierte die schaurige Sammlung. Dabei empfand er ebenso viel Ehrfurcht wie Grauen. Es war eine makabre Ausstellung. Die unheimliche Stille war beängstigend. Er las die Namen unter den
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