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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler
Autoren: Sabine Thiesler
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Benjamin wie immer um sieben Uhr f ü nfzehn in die K ü che kam, schmierte ihm seine Mutter gerade die Schulbrote zum Mitnehmen. Sie war blass und sah m ü de aus. Ihre langen Haare hingen ungek ä mmt ü ber die Schultern, sie hatte sie noch nicht hochgesteckt, aber Benjamin fand sie dennoch wundersch ö n.
    » Ist Papa da? « , fragte Benjamin.
    » Ja. «
    » Wann ist er denn gekommen? «
    » Um drei. M ö chtest du Kakao? «
    Benjamin nickte. » Und jetzt bist du froh? « , fragte er seine Mutter.
    » Ich bin erleichtert. Na klar. «
    Benjamin entspannte sich. Dann war ja alles in Ordnung. Heute Nachmittag w ü rde er mit seinem Vater reden.
    » Geht er heute zur Arbeit? «
    » Nein « , sagte Marianne, » er hat frei und schl ä ft seinen Rausch aus. Und jetzt beeil dich, es ist gleich halb. «
    Benjamin hatte es nicht so eilig, weil er wusste, dass er nicht zu sp ä t kommen konnte, wenn er gar nicht in die Schule ging, aber das durfte er sich nicht anmerken lassen. Daher schlang er sein Marmeladenbrot hinunter wie gew ö hnlich und kippte den Kakao hinterher. Dann nahm er seine Tasche, in der er sicherheitshalber die Bravo und beide Klassenarbeitshefte verstaut hatte, packte seine Schulbrote ein, hauchte seiner Mutter einen Abschiedskuss auf die Wange, riss im Vor ü bergehen im Flur seine Jacke vom Haken und raste die Treppe hinunter.
    Marianne Wagner hatte sich aus dem Rollstuhl erhoben und stand am Fenster. Ihre Beine erlaubten es ihr, einen Moment zu stehen, und sie genoss diesen Moment. Ich habe einen wunderbaren Sohn, dachte sie, und die Probleme mit der Schule kriegen wir auch noch in den Griff. Gemeinsam schaffen wir das.
    Sie sah, wie er aus dem Haus kam und die Stra ß e mehr entlangh ü pfte als - lief. Dieses Kind ist ein Geschenk, sagte sie sich, zumal ich nie wieder eins bekommen werde.
    Ihr wurde ganz leicht ums Herz, und sie winkte ihm hinterher, obwohl er es nicht sehen konnte. Dann ü berlegte sie, ob sie alles im Haus hatte, um ihm sein
    Lieblingsgericht zu kochen. Hackbraten mit viel brauner So ß e und gedrehten Nudeln.
    Ein kleines Paket Hackfleisch hatte sie noch in dem Gefrierfach ü ber dem K ü hlschrank, die Eier reichten ebenfalls, und alte Br ö tchen und geriebene Semmeln hatte sie immer vorr ä tig im K ü chenschrank. Dass sie ihre Idee auch in die Tat umsetzen konnte, machte sie ganz euphorisch. Zum ersten Mal seit langer Zeit freute sie sich auf das gemeinsame Mittagessen, denn auch Peter w ü rde dabei sein. Langsam begann sie die K ü che aufzur ä umen, konzentrierte sich auf jeden Schritt und jede Handbewegung. Aber auch das erschien ihr heute leichter als sonst.
    Dann goss sie sich eine frische, hei ß e Tasse Kaffee ein, setzte sich wieder in ihren Rollstuhl und schaltete das Radio an. » Morning has broken « , sang Cat Stevens. Es war ein Lied ihrer Jugend, und sie summte es leise mit. Drau ß en wurde der Regen st ä rker.
    3
    Bis Karstadt war es nicht mehr weit. Benjamin ging schneller. So ein Schultag war verdammt lang, wenn man nichts zu tun hatte und nicht wusste, wohin. Sein Freund Andi hatte wenigstens eine Oma, bei der Andi jederzeit aufkreuzen konnte. Zweimal hatte Andi bei ihr den Vormittag verbracht, als er die Schule schw ä nzte, um eine Biologie- und eine Englischarbeit nicht mitschreiben zu m ü ssen. Andis Oma hatte immer Kekse im Haus und spielte stundenlang Mau-Mau, Schafskopf oder Mensch- ä rgere-dich-nicht. Andi war total begeistert von seiner Oma. Bei ihr hatte er sogar schon einmal eine Zigarette rauchen d ü rfen, aber vor allem hatte er ihr heiliges Ehrenwort, dass sie Andis Eltern nichts verraten w ü rde. So eine Oma war Gold wert. Vor allem bei diesem Wetter. Benjamin beschloss, Andi zu fragen, ob er das n ä chste Mal vielleicht auch zu dieser Oma gehen k ö nnte.
    Benjamins Opa, der Vater seiner Mutter, war schon seit einigen Jahren tot, und seine Oma lebte nun allein in einem klein en Haus mit einem Dackel und ein paar H ü hnern in L ü bars, am Stadtrand von Berlin. Viel zu weit weg, um den Vormittag dort verbringen zu k ö nnen. Die Eltern seines Vaters wohnten in der N ä he von M ü nchen. Benjamin hatte schon zweimal die Sommerferien dort verbracht. Vielleicht konnte er Andi einen Tausch vorschlagen. Andi kam in den Sommerferien mit nach Bayern zu seinen Gro ß eltern, daf ü r lieh Andi ihm die Oma in Berlin. Das war immerhin eine M ö glichkeit.
    Die warme Kaufhausluft, die ihm durch das starke Gebl ä se in der T ü rschleuse
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