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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler
Autoren: Sabine Thiesler
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war ein Weihnachtsgeschenk seiner Frau, die vor achtzehn Jahren gestorben war. Seine Figur hatte sich kaum verändert, er war eher magerer geworden, seit er weniger trank, weil zu mehr Bierkonsum das Geld einfach nicht reichte. In all den Jahren hatte es keinen Anlass für ein weißes Hemd gegeben, aber heute musste er es tragen. Unbedingt.
    Er fand es um halb sechs auf dem Boden eines Regals, deren obere Fächer bereits vor langer Zeit zusammengebrochen waren. Es war schwierig und umständlich, das Regal auszuräumen, um an das unterste Fach heranzukommen, und erhöhte den Müllberg hinter dem Sofa um fast einen Meter, aber es gelang.
    Als er das fabrikneue Hemd anzog, fühlte er eine Energie in sich aufsteigen, die wie ein warmer Fluss in seine müden Knochen strömte. Etwas derartig Beflügelndes hatte er schon Jahre nicht mehr gespürt.
    Er konnte es gar nicht erwarten, zur Arbeit zu gehen. Wenn alles gut ging, war heute der wichtigste Tag in seinem erbärmlichen Leben.
    Kriminalgericht
    Mareike zitterte vor Nervosität am ersten Prozesstag gegen Alfred Fischer, geborener Heinrich, alias Enrico Pescatore, den Mörder ihres Adoptivsohns Jan. Jan war nach seiner Rettung aus dem zugemauerten Haus nicht mehr aus dem Koma erwacht und fünf Tage später im Krankenhaus von Montevarchi gestorben.
    Mareike hatte danach versucht, ihren Schmerz in Arbeit zu ersticken, und unterstützte so gut sie konnte die anschließenden Ermittlungen der italienischen Kollegen. In Casa Lascone und auch in La Roccia wurden die Pools geöffnet und die Leichen von Filippo und Marco gefunden.
    In allen sieben Mordfällen wurden DNA-Spuren mit der DNA von Enrico, alias Alfred Fischer, verglichen. Es gab keinen Zweifel mehr, dass er der Mörder der Kinder war. Auch die Eckzähne konnten allen Opfern zugeordnet werden.
    Während Mareike mit ihrer noch verbleibenden Kraft auf den Prozess hinarbeitete, versank Bettina in tiefe Depression, betäubte ihre Verzweiflung mit immer stärkeren Medikamenten und war seit Monaten arbeitsunfähig. Und obwohl sie zusammen mit Mareike vor Gericht als Nebenklägerin auftrat, war sie psychisch derart instabil, dass es ihr unmöglich war, dem Prozess bei zuwohnen.
    Mehrmals am Tag telefonierte Mareike mit Bettina, da sie in ständiger Angst lebte, Bettina könnte irgendwann dem inneren Druck nachgeben und etwas Unüberlegtes tun.
    An diesem Morgen, wenige Minuten vor Prozessbeginn, ging Mareike auf dem Gerichtsflur auf und ab, drückte ihr Handy fest ans Ohr und versuchte, ihrer Freundin Mut zu machen. Alfred würde seine gerechte Strafe bekommen, erklärte sie ihr zum tausendsten Male, das war vollkommen sicher. Die Beweiskette war lückenlos, und Alfred war geständig, wenn auch ohne jede Reue. Zwar machte eine Bestrafung Alfreds keines der Kinder wieder lebendig, aber zumindest konnte man sicher sein, dass er keinem weiteren Kind noch einmal etwas würde antun können.
    Bis der Saal geöffnet wurde, waren es noch zwanzig Minuten. Aber bereits jetzt strömten immer mehr Menschen in den Flur und warteten vor der noch geschlossenen Tür.
    Daher schenkte Mareike auch dem Putzmann, der einen grünen Kittel trug und mit gesenktem Haupt und langsamen geübten Schwüngen den Wischmopp über den Linoleumboden gleiten ließ, keine große Beachtung. Sie fragte sich zwar einen Augenblick lang, ob es nicht unsinnig sei zu wischen, während derartig viele Menschen über den Flur liefen, vergaß den Gedanken dann aber sofort wieder.
    Pit sah auf die Uhr. Er verstaute sein Putzzeug in einem kleinen, dafür vorgesehenen Raum, zog den Kittel aus und ging zur Eingangstür des Gerichtssaales.
    Vor der Tür stand der Sicherheitsbeamte Kober, den Pit seit Jahren kannte. Pit grüßte Kober freundlich.
    »Was ist denn mit dir los?«, fragte Kober und deutete auf Pits außergewöhnlich festliche Kleidung. »Hast du Geburtstag?«
    »Nee«, Pit grinste, »aber ich hab Feierabend, und der Fall interessiert mich. Kann mich da ja nich im Kittel reinsetzen.«
    »Wenn de Recht hast, haste Recht«, meine Kober. »Aber 'n Moment musste dich noch gedulden. Zehn Minuten, dann mach ick uff.«
    Allmählich trafen auch Presse und Fernsehen vor dem Gerichtssaal ein. Anne Golombek, Daniel Dolls Vater und Kommissar Karsten Schwiers gaben SAT 1 und RTL Kurzinterviews, nur Mareike zog sich unbemerkt und von der Presse unbehelligt ans Ende des Flurs zurück, um ungestört weiter mit Bettina telefonieren zu können, die gar nicht mehr aufhörte zu
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