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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler
Autoren: Sabine Thiesler
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Untersuchungsgefängnis nach Ärezzo bringen. Aber genau weiß ich es nicht.«
    Harald schlug mit der Handkante auf den Tisch und ging auf der Terrasse auf und ab wie ein Tiger im Käfig.
    »Jan lebt«, flüsterte Anne. »Das ist im Moment das Wichtigste. Wenigstens einer hat es geschafft.«
    EPILOG
    Berlin/Moabit November 2005
    Seit sechs Jahren lebte er nun schon in Moabit. Hinterhof, Parterre, achtunddreißig Quadratmeter. Er teilte sich seine Behausung mit jeder Menge Kakerlaken, Küchenschaben und Ratten, die seine Küchenabfälle fraßen, sich aber ansonsten sehr zurückhaltend verhielten, offenbar waren sie daran interessiert, die behagliche Wohngemeinschaft nicht zu gefährden. Nur nachts hörte er die Ratten ab und zu fiepen, wenn sie sich über Essensreste hermach ten und sich darum stritten. Er hörte dieses Fiepen ganz gern, empfand es als Trost, wenigstens nicht ganz allein zu sein.
    Seit er hier in Moabit wohnte, hatte er noch nie sauber gemacht oder aufgeräumt, ausgelesene Zeitungen weggeschmissen, leere Bierflaschen in den Container geworfen oder alte Pizzaverpackungen zum Müll gebracht. Mittlerweile war das Chaos unbeherrschbar geworden, es war ihm im wahrsten Sinne des Wortes über den Kopf gewachsen, er konnte nichts mehr daran ändern. Einen halben Meter hoch waren Müll und seine Sachen schon auf dem Boden der gesamten Wohnung verteilt, er konnte nur noch versuchen, sich wenigstens die Stellen zu merken, wo die allerwichtigsten Dinge vergraben waren.
    Er hatte ein Dach über dem Kopf. Mehr nicht. Und manchmal reichte dieser Gedanke schon zu einem kleinen Anflug von Zufriedenheit.
    Wenn er aus dem Haus ging, grüßte er stets freundlich und wurde ebenso freundlich zurückgegrüßt. Aber er sprach mit niemandem, und daher kannte ihn auch niemand. Niemand wusste etwas über seine Vergangenheit, über sein Schicksal. Er war der ruhige, angenehme Mieter mit dem dünnen, weißen Haar, der aussah wie ein Siebzigjähriger, in Wahrheit aber erst vierundfünfzig war. Man respektierte ihn im Haus, weil er keine Feste feierte, niemals laute Musik hörte und die Mülltonnen nicht verstopfte.
    Er legte Wert darauf, seine Vorhänge stets geschlossen zu halten. Niemand sollte sehen, wo der Müll blieb, den er der Hausgemeinschaft ersparte.
    Wenn er etwas auf dieser Welt wirklich liebte, dann war es seine Arbeit. Seit drei Jahren putzte er im Landgericht, und er war der sauberste, ordentlichste, gründlichste und zuverlässigste unter seinen Kollegen.
    Es war ihm eine Lust, durch die hohe Eingangshalle zu gehen, in der es immer angenehm kühl war, und er genoss den Klang seiner Schritte, früh am Morgen, wenn außer der Putzkolonne noch niemand im Gericht war. Dieser gewaltige Raum mit den hohen Säulen, die Galerie, auf der es ihn schwindelte, wenn er hinunter in den Eingangsbereich sah, die breite Treppe mit den ungewöhnlich flachen Stufen, die man im Laufschritt nehmen konnte ..., er hatte das Gefühl, an heiliger Stätte arbeiten zu dürfen, was ihm das Gefühl von Freiheit gab.
    Er liebte ebenso die langen Flure, deren Fußböden nach Bohnerwachs rochen und seine Gummisohlen bei jedem Schritt quietschen ließen. Er konnte sich keine schönere Arbeit vorstellen, als mit einem feuchten Lappen über die blank polierten Tische in den Verhandlungssälen zu fahren, und ein regelrechter Glücksfall war es für ihn, wenn er irgendwo doch noch eine staubige Ecke fand. Peinlich genau kontrollierte er jeden Sitzplatz, jedes Pult und gab jede vergessene Akte, jeden Kugelschreibe r, jedes Feuerzeug, sogar Tempo taschentücher und halb leere Zigarettenschachteln gewissenhaft beim Pförtner ab.
    Und solange er im Gericht war und den Geruch von Putzmitteln regelrecht in sich aufsog, vergaß er seine stinkende, zugemüllte Wohnung, in der er nichts weiter tun konnte, als vor sich hin zu dämmern und auf den nächsten Arbeitstag zu warten.
    Er nannte sich Pit. Auf Pit konnte man sich immer hundertprozentig verlassen. Er war ein guter Kumpel, der aber nie mit den Kollegen nach Feierabend einen trinken ging. Und auch von seinen Kollegen im Gericht wusste niemand, wo er wohnte, hatte niemand auch nur die leiseste Ahnung, wer er wirklich war.
    An diesem Morgen war alles anders. Die Ratten verschwanden erschrocken und fluchtartig hinter einem Kissenberg, als er sich bereits um vier Uhr früh vom Sofa rollte, um in Ruhe sein weißes Hemd zu suchen. Er wusste ganz genau, dass er noch eins besaß, unbenutzt und in Plastikfolie. Es
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