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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler
Autoren: Sabine Thiesler
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ein Marder oder ein Fuchs. Giancarlo war Jäger und kannte die Gegend. Er war sich absolut sicher, dass er bereits gestern Ungewöhnliches bemerkt hätte, falls da etwas gewesen wäre.
    Giancarlo, der mit dem Maresciallo auf Kriegsfuß stand und daher ohnehin jede Entscheidung seines Vorgesetzten kritisierte und missbilligte, plädierte dafür, die Gegend um San Pancrazio abzusuchen. Der Wald war dort wesentlich dichter und viel besser für Verstecke geeignet. Zumal sie dort vor einigen Jahren ein Liebespaar in einem Wagen gefunden hatten, das gemeinsam Selbstmord begangen hatte. Die Leichen wurden erst nach zehn Tagen gefunden, so gut war der Wagen in einer Erdmulde hinter dichtem Ge strüpp verborgen. Giancarlo hatte sich die Stelle genau gemerkt, für ihn gab es keinen perfekteren Platz, sich mit einem Kind zu verstecken oder eine Leiche zu beseitigen.
    Als Giancarlo den Maresciallo über sein Handy anrief und ihm erklärte, dass er die Suche am See und Umgebung für sinnlos halte, man solle sich doch lieber mal der Gegend um San Pancrazio zuwenden, flippte der ebenfalls übermüdete Maresciallo völlig aus. Mit hoher Fistelstimme schrie er Giancarlo an, er möge gefälligst seine Befehle ausführen, und zwar so gründlich wie möglich, ansonsten würde er, der Maresciallo, eigenhändig dafür sorgen, dass Giancarlo nach Palermo versetzt werde. Er habe seine Gründe, warum am See noch einmal gesucht werden solle, und basta.
    Giancarlo fügte sich in sein Schicksal. Er wusste, welch umfangreiche Beziehungen Lorenzo hatte, und Palermo war das Allerletzte, wo er hinwollte. Auf seine alten Tage hatte er keine Lust, sich auch noch mit der Mafia auseinander setzen zu müssen.
    Giancarlos Leute durchsuchten also Casa Vigna, ein halb verfallenes und verlassenes Haus, das nur noch einmal im Jahr während der Olivenernte genutzt wurde. Außer Olivenresten auf dem Fußboden und eingetrockneter Peperoncinicreme, steinhartem Brot und einer halben Flasche Wein, der mittlerweile zu Essig geworden war, fanden sie nichts, was darauf hinweisen könnte, dass sich in den letzten Wochen ein Mensch in diesem Haus aufgehalten hatte.
    Hunde durchschnüffelten Wege und Gebüsch am steil ansteigenden Hang hinter Casa Vigna, bis fast zum Abzweig nach Casa Cinghale, einem vollständig eingezäunten und von Hunden bewachten Anwesen, wo es völlig unmöglich war, unbemerkt unterzutauchen.
    Dann wandte sich die Männerstaffel nach links und arbeitete sich langsam ins Tal und zum See vor.
    Giancarlo nahm sein Handy und rief seine Frau an. »Koch was Schönes«, sagte er. »Ich bin gestresst. Die sinnlose Sucherei geht mir auf die Nerven.«
    Dann folgte er seinen Männern und den Hunden, die sich allmählich II Nido näherten.
    95
    Jan versuchte in seinem Traum, seine Finger durch die Gitterstäbe zu stecken, die böse Hexe kaute auf seinem Zeigefinger herum, rotzte ihm ins Gesicht und schrie: »Du widerliches Miststück, du bist immer noch viel zu dünn und noch lange nicht fett genug!«
    Wie viele Wochen und Monate sollte er noch hier liegen und darauf warten, dass die Hexe ihn fraß? Er wollte alles tun, was die Hexe befahl, er wollte alles essen und trinken, aber da war nichts. Nur Kälte und Dunkelheit, sodass er noch nicht einmal seine Finger zählen konnte. Wie sollte er da fett werden?
    Als er aufwachte, sah er im Halbdunkel, dass der Mann schlief. Er wagte kaum zu atmen, um ihn nicht zu wecken. Sein Magen krampfte sich zusammen, und ihm wurde übel. Er wusste nicht, ob ihm schwindlig war oder nicht, weil er oben und unten nicht mehr unterscheiden konnte.
    Mareike und Bettina. Seine beiden Mamis, es gab sie nicht mehr, sie waren tot, sonst hätten sie ihn längst geholt und aus seinem Gefängnis befreit. Er lebte noch, aber er war allein, und das war schlimmer als Totsein.
    Er versuchte sich aufzurichten, aber es ging nicht. Er konnte weder seine Arme noch seine Beine bewegen, und jetzt fiel ihm wieder ein, warum. Der Mann, der ein Arzt war, hatte ihn festgebunden und operiert, weil eine Schlange in seinen Po gekrochen und sich in seinem Bauch festgefressen hatte.
    »Es tut so weh«, schrie er und bäumte sich auf. Und dann wurde er wieder ohnmächtig.
    Enrico schreckte hoch. Blitzschnell war er auf den Beinen und sah durch den Mauerspalt nach draußen. Es war schon hell, er hatte die kostbare Zeit, die er gehabt hatte, verschlafen. Wütend schlug er seinen Kopf gegen die Wand und sah zu Jan hinüber, der direkt an der feuchten Mauer auf
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