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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler
Autoren: Sabine Thiesler
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Arm hatte sie Eddas Lieblingselefanten. Um halb drei bat Mareike ein paar Kollegen um Hilfe und fuhr los, um Edda zu suchen. Jan blieb bei Bettina, die sich überhaupt nicht mehr beruhigte. Bis dahin hatte er gar nicht gewusst, dass ein Mensch derart verzweifelt und traurig sein konnte.
    Um fünf Uhr früh kam Mareike mit Edda zurück. Sie hatte sie mit ihrer Freundin in einer Disco gefunden. Die beiden hatten nicht im Traum daran gedacht, dass ihr geheimer Discobesuch rauskommen könnte.
    Mareike sagte keinen Ton mehr an diesem Abend. Sie ging wortlos ins Bett. Als Bettina Edda in den Arm nahm, weinte sie erst richtig. Es war unerträglich. Jan schwor sich insgeheim, dass er nie etwas machen würde, was Bettina noch einmal derartig zum Weinen bringen würde.
    »Es geht nicht«, flüsterte er. »Es geht wirklich nicht. Aber morgen vielleicht. Bettina erlaubt mir bestimmt, hier zu übernachten. Und dann bringe ich auch einen Schlafsack mit.«
    »Du redest zu viel«, sagte Enrico. »Kinder, die reden, gehen mir auf die Nerven.«
    Jan verstummte. Diesen Ton hatte er bei dem netten Enrico nicht erwartet.
    »Leg dich da auf die Decke!«, befahl Enrico. »Und zwar auf den Bauch.«
    »Warum?« Allmählich wurde Jan die ganze Sache unheimlich.
    Die Angst kroch wie eine eisige Hand langsam seinen Rücken hinauf.
    »Tu, was ich dir sage!«
    Jan legte sich auf die Decke. Sein Herz klopfte bis zum Hals.
    Enrico nahm Jans Hände und begann, sie mit geübten Handgriffen auf dem Rücken zu fesseln. Jan versuchte sich zu wehren. »Hör auf damit«, zischte Enrico. »Sonst tue ich dir fürchterlich weh!«
    Als Jan an Händen und Füßen gefesselt und außerdem mit einem der Geschirrhandtücher geknebelt auf dem Boden lag, zog Enrico ein Messer aus der Tasche und schnitt ihm die Kleidung vom Leib.
    >Mama<, flehte Jan in Gedanken, >hol mich hier raus. Bitte komm und hilf mir! Du weißt doch sonst auch immer, wer die Mörder sind und wo sie sind. Und du hast eine Pistole! Mareike! Bettina! Edda! Bitte!< Und dann dachte er an Harry, der in seiner Waschschüssel genauso gefangen war wie er. Ich lass dich frei<, schwor er sich, >wenn ich hier wieder rauskomme, lass ich dich frei. Dann musst du nicht mitkommen nach Deutschland.
    Er versuchte, mit seinem Schicksal zu handeln, und ein größerer Verzicht fiel ihm nicht ein.
    Enrico beugte sich über ihn. Jan sah im Licht der Kerze seine kalten Augen. Warum sieht er mich nicht an?, dachte Jan. Warum guckt er so komisch?
    Und in diesem Moment begriff er, dass er aus diesem dunklen Haus nicht wieder lebend herauskommen würde.
    92
    Mareike zog ihr Handy aus der Tasche und wollte gerade die Polizei anrufen, als sie sah, dass zwei Wagen den Weg herunterkamen. Ein Privatwagen und die Carabinieri.
    Im Privatwagen saßen Kai und Harald. Anne war in Valle Coronata geblieben. Mareike und Bettina erfuhren, dass in Valle Coronata die Leiche des vermissten Felix gefunden worden war. Kai übersetzte, und Mareike erklärte den italienischen Kollegen in knappen Sätzen, wer sie war und dass ihr Sohn in der Gewalt des mutmaßlichen Mörders und höchstwahrscheinlich in großer Gefahr sei.
    Kurz darauf begann die größte polizeiliche Suchaktion, die es zwischen Florenz, Arezzo und Siena jemals gegeben hatte. Hubschrauber kreisten über dem Gebiet zwischen Valle Coronata und Casa Meria auf der Suche nach Enricos Wagen. Aber der stand neben dem Haus, in dem er sich mit Jan versteckt hatte, in einem verfallenen Unterstand und war aus der Luft nicht zu sehen. Bereits anderthalb Stunden später traf eine Hundertschaft der Polizei aus Florenz ein und durchkämmte das Gelände, das Militär aus Pienza erreichte gegen achtzehn Uhr Ambra und unterstützte ebenfalls die Polizei bei der Suche. Straßensperren an den Ausfallstraßen in Richtung Rom und Mailand und Kontrollen an den Mautstellen der Autobahn wurden eingerichtet, die Fahndung nach Enrico wurde halbstündlich im Radio wiederholt, die Fernsehsender Rai Uno, Rai Due und Rai Tre baten die Bevölkerung um Mithilfe.
    Es war ein Wettlauf mit der Zeit.
    93
    Jan rührte sich nicht. Enrico hatte die Grappaflasche beinah zur Hälfte geleert und beobachtete ihn im Licht der Kerze. Er war noch lange nicht fertig mit ihm.
    Jan lag so still und bewegungslos da, dass Enrico einen Moment Angst bekam, er könnte tot sein. Einfach so weggestorben, vollkommen unbemerkt.
    Enrico wurde wütend. Diese kleine Kröte würde ihm nicht alles kaputtmachen und ihn um den schönsten
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