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Der Kampf mit dem Dämon

Der Kampf mit dem Dämon

Titel: Der Kampf mit dem Dämon
Autoren: Stefan Zweig
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sie sucht die schönsten Äpfel aus dem Korbe ... alles beugt sich und neigt sich vor ihm, dem Mörder Gottes, alles jubelt, jubelt ... warum? ... Ja, er weiß, er weiß es, der Antichrist ist erschienen, und sie singen »Hosianna, Hosianna« ... alles dröhnt, die Welt dröhnt von Jubel, vor Musik ... Und dann plötzlich alles stumm ... Irgend etwas ist gefallen ... Er selbst ist es ja ... hingefallen vor dem Haus ... Irgend jemand trägt ihn hinauf ... jetzt ist er wieder in dem Zimmer ... hat er lange geschlafen, es ist so dunkel ... dort das Klavier, Musik! Musik! ... Und dann plötzlich Menschen im Zimmer ... ist es nicht Overbeck ... aber der ist doch in Basel, und er, er ist ... wo? ... Er weiß es nicht mehr ... Warum sehen sie ihn so fremd, so besorgt an ... und dann ein Wagen, ein Wagen ... wie die Schienen rattern, so seltsam rattern, als wollten sie singen ... ja ... sein Gondellied singen sie, und er singt es mit ihnen ... singt es im unendlichen Dunkel ...
    Und dann lange in einem Zimmer ganz anderswo, immer dunkel, immer dunkel. Nie mehr die Sonne, nie mehr das Licht, nicht innen, noch außen. Irgendwo unter ihm reden noch Menschen. Eine Frau – ist es nicht die Schwester? Die istdoch fort, ganz fort im Lamaland? – liest ihm vor aus Büchern ... Bücher? Hat er nicht auch Bücher geschrieben? Irgend jemand antwortet mild. Aber er versteht es nicht mehr. Wem solcher Orkan durch die Seele gebraust, ist taub für alles Menschenwort. Wem der Dämon so tief ins Auge gesehen, der bleibt geblendet.
    Der Erzieher zur Freiheit
    Größe heißt: Richtung geben.
    »Nach dem nächsten europäischen Kriege wird man mich verstehen« – mitten aus den letzten Schriften springt dieses prophetische Wort. Denn wirklich, den wahren Sinn, die historische Notwendigkeit des großen Mahners versteht man erst aus dem gespannten, unsicheren und gefährlichen Zustand unserer Welt um die Jahrhundertwende: in diesem atmosphärischen Genie hat sich der ganze Druck der moralischen Dumpfheit Europas gewaltsam entladen – das herrlichste Gewitter des Geistes vor dem furchtbarsten Gewitter der Geschichte. Nietzsches »weitdenkender« Blick sah die Krise, indes die andern sich an allen gefälligen Feuern der Phrase häuslich wärmten, und sah ihre Ursache: die »nationale Herzenskrätze und Blutvergiftung, um derentwillen sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen absperrt«, den »Hornviehnationalismus« ohne höheren Gedanken als den selbstischen der Historie, indes ungestüm alle Kräfte schon zu höherer, zu zukünftiger Verbindung drängten. Und zornig bricht die Verkündigung einer Katastrophe aus seinem Mund, wie er die krampfigen Versuche sieht, »die Kleinstaaterei Europas zu verewigen«, eine Moral zu verteidigen, die nur auf Interessen und Geschäft beruht. »Dieser absurde Zustand soll nicht mehr lange dauern«, schreibt sein Finger feurig an die Wand, »das Eis, das uns trägt, ist so dünn geworden: wir fühlen alle den warmen gefährlichen Atem des Tauwinds«. Niemand hat so wie Nietzsche das Knistern im europäischen Gesellschaftsbau gefühlt, niemand so verzweifelt in einer Zeit optimistischer Selbstgefälligkeit den Schrei zur Flucht, zur Flucht in die Redlichkeit, in die Klarheit, zur Flucht in die höchsteintellektuelle Freiheit über Europa hingeschrien. Keiner so stark gefühlt, daß eine Zeit abgelebt und abgestorben war und in tödlicher Krise ein Neues und Gewaltsames beginnt: nun erst wissen wir es mit ihm.
    Diese tödliche Krise, er hat sie tödlich vorgedacht, tödlich vorgelebt: das ist seine Größe, sein Heldentum. Und die ungeheure Spannung, die seinen Geist ins Äußerste quälte und schließlich auseinanderriß, band ihn mit höherem Element: sie war nichts anderes als das Fieber unserer Welt, ehe die Blutbeule aufbrach. Immer fliegen ja Sturmvögel des Geistes den großen Revolutionen und Katastrophen voraus, und der dumpfe Glaube des Volkes, der vor Kriegen und Krisen im höheren Element Kometen erscheinen und ihre blutige Bahn ziehen läßt, dieser abergläubische Glaube hat eine Wahrheit im Geist. Nietzsche war ein solches Fanal im höheren Element, das Wetterleuchten vor dem Gewitter, das große Brausen oben in den Bergen, ehe der Sturm in die Täler fällt – keiner hat so meteorologisch sicher wie alles einzelne auch die Gewalt des kommenden Kataklysmas unserer Kultur vorausgefühlt. Aber das ist die ewige Tragik des Geistes, daß seine höhere klare Sphäre der Schau sich
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