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Der Kampf mit dem Dämon

Der Kampf mit dem Dämon

Titel: Der Kampf mit dem Dämon
Autoren: Stefan Zweig
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diesem unaufhörlichen Sturzbach von rauschenden Gedanken er den harten ebenen Boden unter den Füßen verliert, wenn Nietzsche, der von allen Dämonen des Geistes Zerrissene, nicht mehr weiß, wer er ist, wenn er, der Grenzenlose, seine Grenzen nicht mehr erkennt? Schon lange scheut sich seine Hand (seit sie sich dem Diktat höherer Mächte und nicht mehr dem Ich gehorsam fühlt), unter Briefe seinen eigenen Namen Friedrich Nietzsche zu setzen. Denn der protestantische kleine Pfarrerssohn aus Naumburg, so mag er dunkel fühlen, er ist es längst nicht mehr, der so Ungeheures erlebt, sondern irgendein Wesen, das noch keinen Namen hat, etwas Übergewaltiges, ein neuer Märtyrer der Menschheit. Sounterschreibt er immer nur mit symbolischen Zeichen: »Das Untier«, »Der Gekreuzigte«, »Der Antichrist«, »Dionysos«, seine letzten Botschaften, seit er sich mit den Mächten, den übergewaltigen, als eins fühlt, selbst nicht mehr als Mensch, sondern als Macht und Sendung. »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.« »Ich bin ein welthistorisches Ereignis, das die Geschichte der Menschheit in zwei Teile spaltet« – so schreit er in gewaltigster Hybris ins schauerliche Schweigen. Wie Napoleon im brennenden Moskau, vor sich den unendlichen russischen Winter, rings um sich nur jämmerliche Trümmer der gewaltigen Armee, noch immer die monumentalsten, drohendsten Proklamationen erläßt (großartig bis an den Rand der Lächerlichkeit), so verfaßt Nietzsche mitten im brennenden Kreml seines Gehirns die furchtbarsten Pamphlete: er befiehlt, daß der deutsche Kaiser nach Rom komme, damit er ihn füsilieren lasse; er fordert die europäischen Mächte zu einer militärischen Aktion gegen Deutschland auf, das er in eine eiserne Zwangsjacke schließen will. Nie hat apokalyptischere Wut wilder ins Leere gewütet, nie so herrliche Hybris einen Geist über alles Irdische hinausgetrieben. Wie Hammerschläge fallen seine Worte gegen das ganze Weltgebäude: er verlangt, daß der Kalender umgestellt werde von der Geburt Christi auf das Erscheinen seines Antichrists, er stellt sein Bildnis über alle Gestalten der Zeiten – selbst der kranke Wahn Nietzsches ist noch größer als jener aller andern im Geist Geblendeten; auch hier wie in allem durchwaltet ihn das herrlichste, das tödlichste Zuviel.
    Nie ist auf einen schaffenden Menschen ein solcher Strom von Inspiration gefallen wie auf Nietzsche in diesem einzigen Herbst. »So ist nie gedichtet, nie gefühlt, nie gelitten worden: so leidet ein Gott, ein Dionysos« – diese Worte mitten im beginnenden Wahn, sie sind furchtbar wahr. Denn dies kleine Zimmer des vierten Stockes und die Höhle von Sils-Maria, sie beherbergen zugleich mit dem kranken, nervenzuckenden Menschen Friedrich Nietzsche die kühnsten Gedanken, die herrlichsten Worte, die das Jahrhundert an seinem Ende empfunden: der schöpferische Geist hat sich geflüchtet unter das niedere sonnenverbrannte Dach und wirft über einen armen, einen einzigen, namenlosen, scheuen, verlorenen Menschen seine ganz Fülle – unendlich mehr als ein einzelner Mensch ertragen kann. Und in diesem engen Raume, ersticktvon Unendlichkeit, taumelt und tappt der erschreckte, der arme irdische Sinn unter der Wucht der Blitzschläge, peitschenden Erleuchtungen und Verkündungen. Ein Gott, so fühlt er ganz wie der geistgeblendete Hölderlin, ein Gott ist über ihm, ein feuriger Gott, dessen Blick die Augen nicht ertragen und dessen Anhauch verbrennt ... immer hebt sich der Zitternde auf, sein Antlitz zu erkennen, und lose stürzen ihm die Gedanken auseinander ... Denn er, der dies Unsagbare fühlt und dichtet und leidet ... ist er – ist er nicht selber Gott ... ist wieder ein Gott der Welt, nachdem er den andern getötet ... Wer, wer ist er? ... Ist er der Gekreuzigte, der tote Gott oder der lebendige ... Der Gott seiner Jugend, Dionysos ... oder ist er beides zugleich, der gekreuzigte Dionysos ... Immer mehr verwirren sich die Gedanken, der Strom braust zu laut von zu viel Licht ... Ist es noch Licht? Ist es nicht Musik? Das kleine Zimmer im vierten Stock der Via Alberto beginnt zu tönen, alle Sphären leuchten und schwingen, alle Himmel sind verklärt ... Oh, welche Musik: die Tränen fluten ihm in den Bart, warm, heiß ... oh, welche göttliche Zärtlichkeit, welches smaragdene Glück ... Und jetzt ... wieviel Helligkeit ... Und unten auf der Straße, alle Menschen lächeln ihm zu ... wie sie aufsehen und ihn grüßen, und die Hökerin dort,
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