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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte
Autoren: Robert Schindel
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schon der Oktober und danach der Dezember.
    Fraul lächelte und wischte Rosa den Schweiß vom Angesicht, bis ihr Blick vierzig Jahre und mehr zurückgelegt hatte, an die Oberfläche stieß und den lächelnden Edmund wahrnahm, der mit seinen ruhigen Händen in ihrem Gesicht herumfuhr, es glattstrich und trockenlegte, und sie streckte den Unterkiefer vor und ließ mit einem geseufzerten Aufwachlaut ein Lächeln aus dem Mund heraus, welches so wehtat, dass es sich augenblicklich abtrennte vom Novembertraum. Sie setzte sich auf, seufzte nochmals, nahm Frauls Hand und ließ sich wieder in die Kissen hinunter.
    Rosa ließ Edmund einige Sekunden länger im Geprassel, denn sie sprang aus dem Bett und holte den Waschlappen. Währenddessen konnte sie sich dem Heute angleichen, denn der Lauf ins Bad und zurück vertrieb ihren Rest
traum, sodass sie mit klarer, ruhiger Stimme Edmund herausholte, indes sie den lauwarmen Waschlappen über seine Stirne zog.
    So schliefen sie ihre Nächte und waren also zusammengetan, und keiner sprach in den Pausen und Tagen.
     
    Mich verfolgt seine Geschichte, seit ich seine Bücher gelesen, das Interview gemacht, dachte Apolloner. Meine eigene Geschichte ist ja ganz gewöhnlich als Enkel von Südtiroler Optanten, selber in Graz geboren und aufgewachsen in Innsbruck. Ich will als Journalist bloß berichten, was der Fall ist. Doch seit meiner eher zufälligen Beschäftigung mit dem alten Fraul lässt mich der nicht los, notierte er. Ich weiß auch nicht. Die anderen hochgedrehten Themen, auch die Kulturpisse von Judith Zischka und Kollegen, lassen mich so ratlos und unangerührt zurück. In der vermaledeiten Zeitgeschichte hocke ich nun und sehe, dass sie eine Schlucht ist, und Eiswände führen hinauf zu jenem Zeitgeist, aus dem ich mich zusammengesetzt glaubte.
    Apolloner starrte auf das nervös Hingekritzelte, indes er den Novemberregen gegen seine Fenster klopfen hörte.
    Er zog sich aus, legte sich ins Bett und wollte einschlafen. Schließlich griff er zum Auschwitzbuch von Primo Levi, das ihn wie ununterbrochen gegen die eigenen Spiegel prallen ließ. Endlich überzog ihn eine gewisse Erschöpftheit, und er schlief ein.
    9.
    (Aus dem Tagebuch des jungen Keyntz)
10. 11. 1985
    Abwechslung in der Schulidiotie. Der künftige Exschwiegervater meiner Schwester Margit, ein ziemlich alter Opa, ist nun für die sechsten und siebenten Klassen angesagt, um über das Dritte Reich persönlich auszusagen. Ich habe der Margit gesagt, wegen mir müsste nicht ständig von jener Scheißzeit geredet werden. Margit hat geantwortet, lieber Stefan, es schadet nix, einmal zu erfahren, was für Verbrecher die Oldies gewesen sind. Ich habe ihr gesagt, wir haben halt keine Gelegenheit, uns ebenso aufzuführen heutzutage. Sie ging mit der Bemerkung, ich wäre ja ein besonders Obergescheiter, aus dem Zimmer. Morgen soll der Alte nun kommen. Vermutlich wird er auf einem Diaprojektor Fotos aus den diversen Straflagern herumzeigen. Brillenberge, Schuhzeug und all das, was wir eh schon hunderttausendmal gesehen haben. Der Tschurtschi wird wieder blöde Bemerkungen über die guten Menschen machen, und die Dolly, die immer einen goldenen Judenstern auf dem Busen liegen hat, wird sich andauernd schnäuzen. Wenigstens fällt der Geographieprofax aus, der nervt eh nur.
     
    Als Fraul durch das Schultor ins Gebäude hineinging, stieg ihm sogleich der Turnsaalgeruch in die Nase. Harald Wolfsgang, der Turnlehrer, der Oberillegale, der mit den Ohrenreiberln, die er aber unterschiedslos Juden- und Arierschülern verabreichte. Mir konnte er nichts anhaben, denn ich bin rechtzeitig mit Matura davongekommen, dachte er. Aber die Juden der drunteren Klassen hat er nach dem Anschluss durch den Turnsaal gejagt, bevor sie eh ausgeschlos
sen wurden. Was ist wohl aus dem Wolfspelz geworden? Während er diesen Gedanken nachhing, ging er die Stufen hinauf. Kleine Kinder liefen ihm vor den Schuhen herum und quietschten, ein Lehrer kam die Stiegen herunter, grüßte ihn mit einem feinschmeckerischen Blick, um danach die Schule zu verlassen. Im ersten Stock wandte er sich automatisch nach links zur Direktion. Vor der weißen Tür mit den Messingtürschnallen blieb er breitbeinig stehen. Da öffnete sich die Tür, Weissenberger schaute dem Fraul ins Antlitz und rief sogleich:
    »Herr Fraul, wie schön.« Sogleich holte er ihn mit wedelnden Armbewegungen in ein großes Zimmer hinein, das sich allerdings als Lehrerzimmer herausstellte.
    Es wurde ihm
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