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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte
Autoren: Robert Schindel
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ist ja egal, es ist die ganze Atmosphäre. Gestern hat der Bonker zu ihr gesagt, du weißt, der große Bonker: ›Der Junge ist janz ordentlich.‹ Weißt du, was das heißt? Kannst du ermessen, was das aus dem Mund von Bonker bedeutet?«
    Karls gewöhnlich etwas blasiertes Gesicht hatte sich von oben bis unten befeuert, sodass es Rosa einen Stich gab und ihr die Brust eng wurde, denn ihr Sohn hatte seit langer Zeit erstmals wieder die Züge ihres Kindes, ein Antlitz, das damals imstande war, durch sein bloßes Dasein ihre Skelettberge unter die Erde zu bringen und sie dabei heraußen zu lassen.
    »Ich kanns mir denken, mein Lieber. Ich weiß ja, was in dir steckt.«
    »Er nicht.«
    »Lass ihn. Sag, wieso sitzen wir heute hier beim Heiner?«
    »Einmal was anderes.«
    »Das war doch dein Lokal mit Onkel Bobby.«
    »Du sagst es.« Karl sah auf sein Glas, trank es aus, warf seiner Mutter einen raschen Blick zu und bestellte ein neues.
    »Das wird Vater freuen«, sagte Rosa und klopfte sanft auf ihr Brustbein.
    »Was? Freuen? Das Wort kommt doch bei ihm nicht vor.«
    »Sagen wird ers dir nicht gerade.«
    »Du meinst, er freut sich in seinem Herzen?« Karl war wieder zu seinem üblichen Gesicht zurückgekehrt mit dem hämischen Zug, der seine Hübschheit in Arroganz verwandelte. »Aber sein Herz hat er doch im Lager gelassen.«
    Rosa begann ihn anzustarren.
    »Entschuldige, Mama.« Sie nahm einen Hunderter aus dem Börsel und legte ihn auf den Tisch.
    »Ich muss zurück.«
    »Entschuldige.«
    »Ist gut, mein Lieber. Konzentrier dich auf die Proben. Lass Vater aus dem Spiel.«
    »Er mag nicht, was ich tu. Es passt ihm nichts an mir.«
    »Sind wir wieder beim Thema?«
    »Ich hätt Geschichte studieren sollen und ihm aus den Archiven Material apportieren.«
    »Das kann er gut selber.«
    »Die Aktentasche sollte ich ihm tragen, wenn er in die Schulen geht und seine Niemals-vergessen-Vorträge hält.«
    »Lass ihn aus dem Spiel.«
    »Ist kein Spiel, Mama. Wie hältst du das nur aus?«
    »Es ist genug, Karel. Ich muss jetzt gehen. Bleibst du noch?« Er nickte, hob das Glas Richtung Rosa.
    »Auf Onkel Bobby«, sagte er mit lauter Stimme. Rosa nickte, küsste ihn und ging zu Sillinger zurück.
    8.
    Der Novemberregen fiel auf die ganze Wienerstadt, er machte überm Haus in der Hollandstraße keine Ausnahme, im Gegenteil. Tief in der Nacht, schien es, fiel er durch das Dach hindurch und in die Träume des Ehepaars Fraul, denn diese schliefen seit Jahrzehnten ihren Schlaf nach den Gesetzen des Novemberregens. Rücken gegen Rücken, und beide mit Kopf und Knien zusammengekrümmt, liefen sie in den immer gleichen Bildern herum, und der November von Auschwitz-Birkenau mit seinem stürzenden Himmel stöpselte diese Bilder nach oben hin zu, und unten war das durchgewässerte, von den ersten südpolnischen Frösten durchzogene Erdreich ohnedies die Grenze. Zwar gab es ja den Wechsel der Jahreszeiten zu allen Zeiten, sodass die Schönheit der sich in Wachstum und Saft befindlichen Natur rund um das Lager den dahinschleifenden Insassen wie ein ironischer Applaus zu ihrem Erdenleben vorkam, doch traumwürdig blieb bloß der November, und im November durchschlug sein Regen ohneweiters das Friedensdach der Hollandstraße und prasselte in die Träume des Ehepaars.
    Abwechselnd, wie auch in den anderen Jahreszeiten, fuhren sie von ganz unten hoch, erwachten, als hätte irgendwas sie hochgeblasen, doch währenddessen der eine schlief und sich wälzte, lag der andre wach und begann, selbst der Er
drosselung entkommen, den einen mit nervösen Streicheleien aus dem Morast zu ziehen, aus ausgetrockneter Kehle beruhigende Laute hinüberzusprechen, bemüht, den Knurr- oder Kreischton, welcher noch in der Stimme und Kehle als akustischer Resttraum mitschwang, durch angestrengtes Modulieren wegzubekommen.
    Doktor Wirths, brüllte es vierzig Jahre danach und ließ Edmunds Augendeckel vibrieren, kommen Sie um Gottes willen, Herr Doktor – der Grabner – Cyrankiewicz – Doktor Capesius hat – Du musst springen wie ein Jo-Jo, ich kann nicht, Gusti, spring wie ein Jo-Jo, die Nonnen bringen den Mantel, spring, sie werden ihn bringen zur frosterstarrten Schneise nach Tauentzien, und schau, Gusti springt nackt in der Furt wie ein Jo-Jo.
    Wenn der Himmel in Wien im November sich öffnete, dann prasselte all das Vergangene herunter wie zu anderen Zeiten auch, aber dieser November ohne einen Sonnentag lag besonders auf dem Haus in der Hollandstraße, so wie
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