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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf
Autoren: Sophie Hannah
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perfekte Treppe hat zehn Stufen«, fährt Ginny fort. »Ich werde Sie jetzt diese Treppe hinuntergeleiten, eine Stufe nach der anderen …«
    Moment mal. Ich bin noch nicht bereit, irgendwo hinzugehen. Ich habe meine Treppe noch nicht ausgewählt. Ganz traditionell ist vermutlich das Beste: dunkles Holz, mit Treppenläufern auf den Stufen. Vielleicht irgendwas Gestreiftes …
    »Schritt für Schritt gehen Sie jetzt weiter und tiefer in Ruhe und Entspannung hinein, Stufe für Stufe, immer weiter und immer tiefer in Ruhe und Entspannung hinein …«
    Wie kann sie so schnell vorpreschen, obwohl sie einschläfernd langsam spricht?
    Was ist mit Stein? Das ist ebenso traditionell und imposanter als Holz, wenngleich auch kälter. Aber wenn man die Stufen mit Teppich auslegt …
    Ginny ist mir mittlerweile weit voraus, aber das ist mir egal. Ich bin fest entschlossen, mir alle Zeit zu nehmen, die ich brauche, um meine Treppe zu entwerfen – eine Abkürzung des Verfahrens, um dann mit einem Satz die Treppe hinunterzuspringen. Solange ich gleichzeitig mit ihr unten ankomme, ist das wohl egal.
    »Und jetzt machen Sie den letzten Schritt und sind an einem Ort wohliger Ruhe und vollkommenen Friedens angekommen. Sie sind völlig entspannt. Und jetzt möchte ich, dass Sie in die Zeit zurückkehren, als Sie ein kleines Kind waren und die Welt noch ganz neu für Sie war. Erinnern Sie sich an einen Augenblick, in dem Sie Freude empfanden, eine so intensive Freude, dass Sie hätten explodieren können.«
    Das verwirrt mich jetzt. Was ist mit der Treppe passiert? War das nur ein Kunstgriff, um mich zu dem ruhigen, entspannten Ort zu bringen? Schon habe ich meine Chance vertan, eine freudige Erinnerung hervorzukramen. Ginny ist bereits weiter und befiehlt mir – sofern man eine derart einschläfernd vorgebrachte Aufforderung als Befehl bezeichnen kann –, mich an eine Gelegenheit zu erinnern, bei der ich entsetzlich traurig war, so traurig, als würde mir das Herz brechen. Traurig, traurig, denke ich, und habe Sorge, noch weiter zurückzufallen. Sie ist schon wieder einen Schritt weiter und ist bei wütend angekommen – weißglühend, kochend vor Zorn –, und mir fällt einfach nichts ein. Ich werde auch noch Punkt drei verpassen. Ich könnte ebenso gut gleich aufgeben.
    Während sie von Angst (»Ihr Herz hämmert, während Ihnen der Boden unter den Füßen wegzubrechen scheint«) zu Einsamkeit übergeht (»Wie ein kaltes Vakuum um Sie herum und in Ihnen, das Sie von allen anderen Menschen trennt«), überlege ich, wie oft sie diese Routine wohl schon abgespult hat. Ihre Beschreibungen sind ziemlich ausdrucksvoll – vielleicht ein bisschen zu sehr. Meine Kindheit war nicht sonderlich dramatisch. Es gab damals oder in meinen Erinnerungen an die Zeit nichts, was den extremen Seelenzuständen entsprechen würde, die sie beschreibt. Ich war ein glückliches Kind, ich fühlte mich geliebt und sicher. Mir brach das Herz, als meine Eltern im Abstand von zwei Jahren starben, aber zu dem Zeitpunkt war ich bereits Anfang zwanzig. Soll ich Ginny fragen, ob ersatzweise auch eine Erinnerung aus dem frühen Erwachsenenalter ginge? Sie sprach ausdrücklich von der frühen Kindheit, aber eine spätere Erinnerung ist sicher besser als gar keine.
    »Und jetzt stellen Sie sich bitte vor, Sie würden ertrinken. Wohin Sie sich auch wenden, überall ist Wasser, es strömt Ihnen in Nase und Mund. Sie können nicht mehr atmen. Was für eine Erinnerung löst das bei Ihnen aus?«
    Mein Philtrum würde ganz nass werden. Bedauere, mehr habe ich nicht zu bieten. Was will Ginny hier aufdecken? Ich bin mit den Gedanken nicht mehr bei Gefühlen, sondern bei U-Boot-Katastrophenfilmen.
    Als sie mich auffordert, mir vorzustellen, dass ich mich in einem brennenden Haus befinde, von den Flammen gefangen, fühle ich mich ganz krank im Magen. Jeder Wohlfühlfaktor fehlt hier so eindeutig, dass ich nur beten kann, dass ich am Ende der Sitzung einen Auswertungsbogen in die Hand gedrückt bekomme, auf dem ich meine Einwände schriftlich niederlegen kann.
    Ich will das nicht mehr.
    »Gut, ganz wunderbar«, sagt Ginny. »Sie machen das großartig.« Ich höre, wie ihr Tonfall sich leicht verschärft, und weiß, der Augenblick für die Publikumsbeteiligung ist gekommen. »Jetzt möchte ich gern, dass Sie eine Erinnerung aufsteigen lassen und sie mir erzählen. Irgendeine beliebige Erinnerung aus irgendeiner Zeit Ihres Lebens. Analysieren Sie sie nicht. Es braucht nichts
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